NS-Täterin auf der Wannseekonferenz: Eichmanns Sekretärin
15 Männer besprachen auf der Wannsee-Konferenz 1942 die „Endlösung“. Jetzt gerät eine Frau in den Fokus: die Stenografin Ingeburg Werlemann.
A nfang Januar 1942 lud Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts der SS (RSHA), hochrangige Vertreter von Staat und Partei zum 20. Januar „zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück“ an den Großen Wannsee 56–58 ein. Gesprochen wurde an diesem Tag über die sogenannte Endlösung der europäischen Judenfrage.
Dem schriftlichen Protokoll zufolge waren 15 Männer in das idyllisch gelegene Gästehaus der SS gekommen – führende Vertreter der Zivilverwaltung der besetzten Gebiete Polens und der Sowjetunion, von Reichsministerien und der NSDAP, zumeist im Rang von Staatssekretären.
Zudem waren Heinrich Müller, der Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und – als Rangniedrigster – Adolf Eichmann, Leiter des Referats IV B 4, des sogenannten Judenreferats, anwesend. Dieser sollte in Absprache mit Heydrich das Protokoll verfassen.
Seit Kurzem wissen wir, dass noch eine weitere Person an der Besprechung teilnahm, die aber aufgrund ihrer Funktion weder eingeladen werden musste noch in dem Protokoll aufgeführt ist. Ingeburg Werlemann, Sekretärin im Vorzimmer von Eichmann.
Die erste Vernehmung: 1962
Es gibt zwar keinen zeitgenössischen dokumentarischen Beweis ihrer Anwesenheit, aber auch keinen vernünftigen Grund, an den Aussagen, die sie selbst im Rahmen von Strafverfahren und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Angehörige des „Judenreferats“ des RSHA in den 1960er und 1970er Jahren machte, zu zweifeln.
„Haben Sie dort Protokoll geführt?“, wurde sie erstmals 1962 in einem Strafprozess vor dem Frankfurter Landgericht, bei dem sie als Zeugin aussagte, gefragt. Nach einer kurzen Verhandlungspause antwortete sie:
„Ich war einmal am Wannsee. Ob das diese Konferenz war, das weiß ich nicht mehr. Einmal habe ich ein Protokoll geführt im Gästehaus am Wannsee. Der Staatsanwalt hat mir aus einem Buch ein Protokoll vorgelegt. Er glaubte, ich hätte das geschrieben. Meiner Erinnerung nach kann ich das nicht getan haben.“
Ingeburg Wagner bei einer Befragung
Die Frage war ihr völlig überraschend gestellt worden, das Gericht verhandelte die Deportation und Ermordung der ungarischen Juden im Jahr 1944. Bei der vorangegangenen zweitägigen Zeugenvernehmung durch die Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt a. M. einen Monat zuvor war sie nicht auf die Wannsee-Konferenz angesprochen worden.
Die zweite Vernehmung: 1967
Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, diese Frage mit dem Satz „Das weiß ich nicht“ zu beantworten, wie sie es in der kurzen Befragung vor Gericht zuvor bereits insgesamt siebenmal getan hatte – oder einfach zu verneinen.
Stattdessen differenzierte sie hier bereits zwischen dem Mitstenografieren der Besprechung und der Anfertigung des Protokolls. Damit ist ihre Aussage im Hinblick auf die Wannsee-Konferenz stimmig, da sie durch das Stenografieren lediglich die Vorarbeiten für das Ergebnisprotokoll getätigt hatte, das so, wie wir es heute kennen, von Eichmann in Absprache mit Heydrich verfasst wurde.
Fünf Jahre später wurde sie in einer Vernehmung im Rahmen der Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige des RSHA zum zweiten Mal zur Wannsee-Konferenz befragt. Statt ihre Aussage von 1962 zu widerrufen oder zu relativieren, ergänzte sie die Information, dass die fragliche Besprechung im Gästehaus der SS am Berliner Wannsee stattgefunden habe, mit dem Hinweis auf die Anwesenheit von Heydrich und Eichmann.
Gerade dadurch kann aus der Teilnahme an einer Besprechung im Gästehaus am Wannsee auf die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 geschlossen werden. Denn bis zum Tod des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD infolge eines Attentats in Prag Anfang Juni 1942 hat es dort, wie wir heute wissen, keine andere Besprechung mit Heydrich gegeben.
BDM- und NSDAP-Mitglied
Auch in den weiteren insgesamt fünf Aussagen blieben das Gästehaus am Wannsee und die Teilnahme Heydrichs sowie Eichmanns Konstanten ihrer Aussagen. Lediglich im Hinblick auf die Gesamtzusammensetzung der Teilnehmer variieren ihre Angaben.
Irgendwelche strafrechtlichen Konsequenzen hatten Werlemanns Aussagen nicht. Sie wurde weder angeklagt noch gar verurteilt. Wer war diese Frau, die durch ihre Anwesenheit auf der Wannsee-Konferenz den Massenmord an den Juden zumindest unterstützt hat?
Ingeburg Gertrud Werlemann wurde am 28. April 1919 in Berlin-Altglienicke geboren. Sie machte eine Ausbildung zur Sekretärin und belegte dabei – wie damals üblich – auch einen Kurs in Stenografie. Anschließend arbeitete sie zunächst beim Generalbauinspekteur Berlin und für kurze Zeit bei der Militärärztlichen Akademie als Schreibkraft.
Seit 1934 war sie Mitglied im Bund Deutscher Mädel, später auch bei der Deutschen Arbeitsfront und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Im September 1938 trat sie in die NSDAP ein. Bereits ab Anfang März 1940 begann sie im Umfeld von Adolf Eichmann zu arbeiten, als sie in der von ihm geführten Reichszentrale für die jüdische Auswanderung im RSHA tätig wurde und als sogenannte Kanzleiangestellte für einen leitenden Sachbearbeiter arbeitete.
Die Sekretärin des Adolf Eichmann
Ab Ende 1940, höchstwahrscheinlich nach dessen Abordnung nach Paris im September, wurde die Einundzwanzigjährige direkt Eichmann zugeordnet. Bis zum Frühjahr 1945 blieb sie im Vorzimmer des Referatsleiters und seines Stellvertreters Rolf Günther in der Berliner Kurfürstenstraße 116. Mit ihr zusammen arbeitete dort auch der Geschäftsführer Rudolf Jänisch.
Im März 1941 war das Referat umstrukturiert worden und firmierte nunmehr unter dem berüchtigten Kürzel IV B 4. Eine weitere dem Vorzimmer fest zugeordnete Sekretärinnenstelle wurde in dieser Zeit mehrmals neu besetzt.
Als Ingeburg Werlemann am 20. Januar 1942 bei der Wannsee-Konferenz für Adolf Eichmann stenotypierte, war sie die dienstälteste Sekretärin des Referats. Im Juni 1944 heiratete sie den Wehrmachtsoffizier Heinz Wagner und nahm dessen Namen an.
Nachkriegsaussagen von Sachbearbeitern des Referats bestätigen Werlemann/Wagners besondere Stellung im Vorzimmer des Referats, das ab Frühjahr 1942 die europaweiten Deportationen von Jüdinnen und Juden zu den Mordstätten in Osteuropa organisierte, und sprechen ausdrücklich von „Eichmanns Sekretärin“.
Inhaftierung durch die Sowjets
Sie selbst erklärte im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen, es habe Bemühungen seitens ihres Mannes und Schwiegervaters gegeben, sie aus der Abteilung von Eichmann versetzen zu lassen, was aber von Eichmann mit dem Argument, sie befände sich in „kriegswichtigem Einsatz“, abgelehnt wurde.
Somit blieb sie bis Anfang Mai 1945 im Dienst des Referats IV B 4, dessen Reste im Februar dieses Jahres nach Prag verlegt wurden. Dort wurde sie Anfang Mai zunächst verhaftet, dann jedoch zusammen mit ihrer Mutter über die tschechische Grenze abgeschoben und kehrte über Dresden nach Berlin zurück.
Nach einer kurzen Inhaftierung in Berlin durch die Sowjetische Militäradministration, Freilassung und erneuter Inhaftierung durch eine Operativgruppe des sowjetischen NKWD am 1. September 1945 wurde Frau Werlemann/Wagner unter anderen im Speziallager 3 in Berlin-Hohenschönhausen und letztlich im Speziallager 7 auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen interniert.
Ihre Verhaftung erfolgte nicht aufgrund konkreter Anschuldigungen, sondern infolge einer auch in der sowjetischen Zone durchgeführten Form des automatischen Arrests wegen der Zugehörigkeit zum NS-Verwaltungs- und -Terror-Apparat „als Stenotypistin der Berliner Verwaltung des SD“. Ihre Entlassung im August 1948 stand im Zusammenhang mit dem offiziellen Ende der Entnazifizierung in der sowjetischen Zone. Sie selbst gab an, mehrmals verhört worden zu sein.
Scheidung und neue Partnerin
Im Speziallager lernte Wagner Käte Werth kennen und ging mir ihr eine Beziehung ein, die bis zu ihrem Tod andauerte. Käthe Werth war als Mitarbeiterin des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht, der „Abwehr“, interniert und bei der Berliner Firma Telefunken als Fotografin beschäftigt gewesen.
Ingeburg Wagner ließ sich kurz nach ihrer Entlassung einvernehmlich von ihrem Mann scheiden. In dem Scheidungsurteil heißt es, „dass seit Ende 1944 jede eheliche Gemeinschaft der Parteien aufgehoben [gewesen] sei“. Kinder waren nicht aus der Ehe hervorgegangen.
Nach ihrer Entlassung wohnte sie wieder bei ihrer Mutter im Hessenwinkel in Berlin-Wilhelmshagen, im Ostberliner Bezirk Köpenick. Nach eigenen Angaben „floh“ sie 1951 in die Bundesrepublik und war ab April des Jahres in Bonn gemeldet.
Hier betrieb ihre Partnerin Käte Werth als ausgebildete Fotografenmeisterin ein florierendes Unternehmen, die Werth-Color-Kopieranstalt, in das Ingeburg Wagner einstieg und im kaufmännischen Bereich arbeitete. Käte Werth war auch als Fotografin überaus erfolgreich und arbeitete beispielsweise für die Regierung Brandt.
Verpasste Chancen
Ende der 1980er Jahre zogen sie nach Garmisch-Partenkirchen um. Sie verpartnerten sich, gaben in ihrem Umfeld jedoch an, dies nur aus steuerlichen Gründen zu tun. 2009 starb Käte Werth, im darauffolgenden Jahr Ingeburg Wagner. Von der Tätigkeit von Ingeburg Wagner als Sekretärin in Eichmanns Vorzimmer war dem Umfeld bis 2019 nichts bekannt.
Schon früh gab es Hinweise auf die Anwesenheit einer Schreibkraft bei der Besprechung am Wannsee. So hatte Eichmann während des Prozesses in Jerusalem Anfang der 60er Jahre mehrmals darauf hingewiesen, Frau Wagner selbst war insgesamt siebenmal dazu befragt worden. Im Juni 1962 erschien ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der sie namentlich nannte. Dennoch gab es bis 2019 keine systematische Recherche, die diese Hinweise aufgegriffen hätte.
Dies ist nicht nur bedauerlich in Bezug auf die nähere Erforschung der Geschichte der Wannsee-Konferenz, sondern auf mehreren Ebenen auch symptomatisch für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Allgemeinen.
Bedauerlich, weil Frau Wagner neben Eichmann und dem ehemaligen Staatssekretär des Innenministeriums, Dr. Wilhelm Stuckart, im Gegensatz zur Mehrheit der nach 1945 vernommenen Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz auch inhaltliche Angaben zum Verlauf machte. So gab sie an, dass das Stenografieren schwierig gewesen sei, „weil viel durcheinander gesprochen wurde“ – eine Aussage zum teilweise lebhaften Verlauf, die sich mit den Angaben von Eichmann deckt.
Nur eine einfache Sekretärin
Möglicherweise hätte sie sich außerhalb des strafprozessualen Raums an mehr erinnern können.
Symptomatisch ist die fehlende Recherche für den Umgang mit der NS-Zeit in den frühen Nachkriegsjahrzehnten, da bis auf wenige Ausnahmen die Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (NSG) kaum überregional oder gar dauerhaft die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft erregten.
Eine Beobachtung oder systematische Begleitung dieser Verfahren durch die Geschichtswissenschaft hat es ohnehin nicht gegeben. Als diese ab den 1990er Jahren begann, Prozessunterlagen als Quellen zu benutzen, dürfte angesichts der bleibenden Fokussierung auf Täter und Tatkomplexe eine einfache Sekretärin völlig irrelevant erschienen sein.
Symptomatisch ist dies aber vor allen Dingen für den Umgang mit Täterschaft. War der Fokus in den frühen Nachkriegsjahren mehrheitlich vom Diskurs über die „Bestien der SS“ geprägt, von denen sich die Gesellschaft leicht distanzieren konnte, setzte sich erst langsam ein Bewusstsein für die „ganz normalen Männer“ durch, die die Verbrechen geplant und umgesetzt hatten oder konkret am Mord beteiligt waren.
Bewusstsein für weibliche Täter fehlt
Bis heute ist die Beschäftigung mit Frauen als Mitläuferinnen und Täterinnen ein Feld, das gern Forscherinnen oder spezifischen historischen Orten, wie der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück als ehemaligem Frauen-KZ, überlassen wird. Auch wenn der Historiker Matthias Heyl die Bedeutung hervorgehoben hat, sich auch mit den Täterinnen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik auseinanderzusetzen, konzentrierte auch er sich dabei auf die weiblichen Wachmannschaften in Konzentrationslagern.
Ein Bewusstsein für weibliche (Mit-)Täterschaft im Bereich der sogenannten Schreibtischtäter(innen) im Kontext des systematischen Massenmords an den europäischen Jüdinnen und Juden fehlt bleibend.
Dieser Umgang mit weiblicher Täterschaft spiegelt sich auch in der justiziellen Aufarbeitung. So gab es insgesamt in der Bundesrepublik kaum Prozesse gegen Frauen, die an der Verfolgung und Ermordung in unterschiedlichsten Tätigkeitsfeldern mitgewirkt hatten.
Lediglich im Hinblick auf den Fürsorge- und Gesundheitssektor wurden Frauen zur Verantwortung gezogen, was mit diesem bereits zur Zeit des Nationalsozialismus mehr als klassischem Berufsfeld für Frauen zusammenhing, daneben wenige ehemalige KZ-Aufseherinnen.
Was ist mit den SchreibtischtäterInnen?
Seit wenigen Jahren kann aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs wieder gegen mutmaßliche NS-Täterinnen und -Täter ermittelt werden, ohne dass ihnen eine unmittelbare individuelle Tötungshandlung nachgewiesen werden muss.
Eine Tötungsmaschinerie unterstützt zu haben, auch ohne direkt am Mord beteiligt gewesen zu sein, reicht für eine Anklage aus. Die Ermittlungen und die daraus resultierenden Gerichtsverfahren richten sich dabei bisher ausschließlich gegen ehemaliges KZ-Lagerpersonal.
Angesichts des Wissens um die Beteiligung und Verantwortung des öffentlichen Dienstes und der Verwaltung für die begangenen Verbrechen stellt sich die Frage, ob diese Argumentation nicht auch für die Schreibtischtäter und ihre männlichen und weiblichen Mitarbeiter gilt – insbesondere den Angehörigen des Reichssicherheitshauptamts –, die weitab von den eigentlichen Mordstätten tätig waren.
Marcus Gryglewski ist Historiker und langjähriger freier Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!