piwik no script img

NS-Kriegsverbrecher-ProzessDemjanjuk entgeht der Ausweisung

Der mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher bezichtigt deutsche Behörden der "Folter", wenn sie ihn nach Deutschland einfliegen. Nun wollen US-Behörden die Ausweisung erneut überprüfen.

Demjanjuk wird zur Last gelegt, Beihilfe zum Mord in mindestens 29.000 Fällen begangen zu haben. Bild: ap

BERLIN taz Die Staatsanwaltschaft München hat am Montag einen Termin weniger. Sie wird den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk nicht wie geplant am Flughafen in Empfang nehmen und ihm den Haftbefehl eröffnen können. Denn Demjanjuk wird nicht kommen. Ein Richter im US-Bundesstaat Virginia ordnete in letzter Minute nach einem Eilantrag des 89-Jährigen eine Überprüfung seiner Ausweisung an.

Demjanjuks Anwalt gab an, der Flug nach Deutschland würde ihn "schweren körperlichen und geistigen Schmerzen aussetzen, die nach einer vernünftigen Definition dieses Ausdrucks eindeutig auf Folter hinauslaufen". Demjanjuk soll an einer Vorform von Leukämie leiden. Ob und wann der pensionierten Automechaniker aus Cleveland, Ohio, nun nach Deutschland ausgeliefert wird, bleibt zunächst unklar.

Dem gebürtigen Ukrainer John (Iwan) Demjanjuk wird zur Last gelegt, im Nazi-Vernichtungslager Sobibor im deutsch besetzten Polen 1943 Beihilfe zum Mord in mindestens 29.000 Fällen begangen zu haben. Sobibor war eines von drei Lagern, die die SS im Zuge der "Aktion Reinhard" 1942 errichtete. Dort wurden die Juden gleich nach ihrer Ankunft zu Tausenden vergast.

Demjanjuk soll in dem Vernichtungslager als Wachmann eingesetzt worden sein. Das geht aus seinem damaligen Dienstausweis hervor. Letzte Zweifel an dessen Echtheit beseitigte jüngst eine Untersuchung des Bundeskriminalamts. Zeugenaussagen anderer Wachmänner aus früheren Verfahren in der Sowjetunion bestätigen Demjanjuks Einsatz. Einzelne Mordtaten können ihm offenbar nicht nachgewiesen werden. Der Ukrainer war ein Rädchen im Getriebe des Massenmords, einer von tausenden "fremdvölkischen" Männern, die der SS zu Diensten standen. Kaum einer von ihnen ist für seine Taten zur Rechenschaft gezogen worden.

Ausgebildet zum Wachmann wurde Demjanjuk im Lager Trawniki. Bevor ihn die Nazis am 27. März 1943 nach Sobibor schickten, arbeitete er im KZ Majdanek. Später ist sein Einsatz im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz durch Akten belegt. Nach Kriegsende tauchte er in einem Lager für Displaced Persons in Landshut unter, bevor er 1952 in die USA emigrieren konnte.

Schon einmal stand John Demjanjuk vor Gericht. In einem spektakulären Verfahren in Jerusalem wurde er vor elf Jahren zum Tode verurteilt - wegen bestialisch begangener Morde im Vernichtungslager Treblinka, die ihm dem Namen "Iwan der Schreckliche" einbrachten. Das damalige Verfahren beruhte vor allem auf Zeugenaussagen von Überlebenden. Schon damals tauchten Zweifel auf, ob Demjanjuk gleichzeitig in Sobibor und Treblinka eingesetzt worden sein könnte. Vor der Berufungsverhandlung fanden sich neue Indizien aus der Sowjetunion, nach denen "Iwan der Schreckliche" in Wahrheit ein Iwan Marchenko gewesen sei. Demjanjuk musste freigesprochen werden.

Der aktuelle Haftbefehl ist Ergebnis akribischer Untersuchungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Es könnte nicht der letzte sein. Der Spiegel berichtet, dass derzeit ein Vorermittlungsverfahren gegen einen in Michigan, USA, lebenden ehemaligen ukrainischen Hilfspolizisten läuft, der eigenhändig Juden ermordet haben soll. Untersucht wird ferner die Vita eines früheren Slowaken, der in Buchenwald und Auschwitz eingesetzt wurde, und eines Exlitauers, der bei der litauischen Geheimpolizei mit den Nazis kollaborierte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!