NS-Exilanten in Großbritannien: Als Churchill Deutsche einsperrte
Der Autor Simon Parkin nimmt sich eines unrühmlichen Kapitels britischer Geschichte an: Die Inhaftierung der aus Deutschland geflüchteten NS-Gegner.
Peter Fleischmann war 17 Jahre alt, als er englischen Boden betrat. Er kam nicht freiwillig. Als Jude von den Nazis bedroht, flüchtete der Waisenjunge Anfang Dezember 1938 mit einem der Kindertransporte auf die Insel.
Gut ein Jahr später, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, galten die Menschen aus Deutschland und Österreich plötzlich nicht mehr als arme Geflüchtete, sondern als Sicherheitsrisiko. Der Journalist Simon Parkin beschreibt, wie sich die Stimmung innerhalb kurzer Zeit drehte, ausgelöst durch einen Zeitungsartikel über den Einsatz getarnter deutscher Nazis in den Niederlanden.
So kam es dazu, dass eine der ersten Maßnahmen von Winston Churchill als Premier darin bestand, alle Immigranten aus dem Nazi-Reich festnehmen zu lassen und in Lager zu sperren. Die Furcht vor der fünften Kolonne war so allgegenwärtig, dass das Vereinigte Königreich demokratische Grundrechte außer Kraft setzte und Menschen ohne Haftbefehl oder Urteil ihrer Freiheit beraubte.
Lager auf der Isle of Man
Simon Parkin: „Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen“. Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Elsbeth Ranke. Aufbau, Berlin 2023. 576 S., 30 Euro
Auch der künstlerisch begabte Peter Fleischmann entging dem nicht. Er geriet in eines von vielen Lagern, die auf der Isle of Man errichtet wurden: Hutchinson Camp. Buchautor Parkin erzählt die Geschichte dieses Lagers und die von Fleischmann beispielhaft für den Irrsinn der Regierung Ihrer Majestät, neben wirklichen Nazis Tausende deutsche Hitlergegner einzubuchten.
Hutchinson war nicht irgendein Lager, es war ein Zentrum von Kreativen. Bildende Künstler, Journalisten, Theaterleute, Schriftsteller, Musiker, Professoren: Hier lebte eine Gemeinschaft mit unglaublichem Potential hinter Stacheldraht.
Ein verständiger Lagerkommandant sorgte dafür, dass die Gefangenen ihren Interessen nachgehen durften. Dadaist Kurt Schwitters konnte sich ein Atelier einrichten. Heinrich Fraenkel erhielt eine Stube, um sein Buch „Help us Germans to Beat the Nazis!“ zu schreiben – und die Möglichkeit, das Manuskript ohne Zensur dem Verlag zuzusenden.
Es gab Kunstausstellungen und eine Lagerzeitung. Es entstand eine Art Volkshochschule, in der Vorträge und Darbietungen jeglicher Art geboten wurden, ein Künstlercafé und sogar eine technische Schule, letztere geleitet von einem jüdischen Flüchtling, der sich zugleich als Nazi-Spion einspannen ließ (was aber erst später herauskam).
Der junge Peter Fleischmann mit seiner künstlerischen Begabung aber fand die besten und kompetentesten Förderer, die sich nur denken ließen. Später, in einem anderen Leben und unter einem anderen Namen, Peter Midgley, wurde er zum Lehrer und geachteten Kunstmaler.
Internierung von Nazi-Gegnern gebrandmarkt
Simon Parkin taucht ein in dieses Panoptikum der exilierten NS-Gegner und ihrer Bewacher. Er berichtet, wie sich 1941 der Wind wieder drehte, weil mehr und mehr Briten die Internierung von Nazi-Gegnern brandmarkten und ihre Freilassung forderten. Tatsächlich kam der größte Teil der Gefangenen wieder frei, auch Peter Fleischmann, der später für die britische Armee als Dolmetscher arbeitete und zu den Übersetzern im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gehörte.
So gebührte diesem Buch über ein in Deutschland wenig bekanntes Thema uneingeschränktes Lob – wären da nicht gewisse Ungereimtheiten, die über rein stilistische Fragen hinausgehen und beim ersten Lesen auffielen. Da ist von einer „knarrenden Tür“ die Rede, geöffnet von einem Berliner Waisenhausdirektor am 9. November 1938, der Pogromnacht. Die Tür mag geknarrt haben, nur der Direktor hat sie gewiss nicht geöffnet – weil er nachweislich gar nicht anwesend war.
Da schreibt Parkin über die Broschüre von britischen Hilfsorganisationen „While You Are in England“, die die Exilierten aufforderte, auf der Straße kein Deutsch zu sprechen, und terminiert die Veröffentlichung auf den Höhepunkt des Spionagefiebers. Dabei erschien sie der Wiener Library zufolge bereits 1938.
„Geheimes Staatsarchiv“
Ein „Geheimes Staatsarchiv“ wird zum Beleg für eine geheimdienstliche Tätigkeit – der Rezensent schwört, unregelmäßig das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu besuchen, ohne deshalb für den BND tätig zu sein.
Es mag sich bei alldem um vereinzelte Nachlässigkeiten handeln. Jedoch entsteht so der Eindruck, nicht jede getroffene Aussage des Buchs sei vertrauenswürdig. Dazu trägt bei, dass Parkin sehr zu szenischen Darstellungen neigt. Nicht nur knarren da Türen, da „flackert das Licht bei düsterer Stimmung“, und ein „Waggon rattert durch die fast vollständige Finsternis“. Das fesselt den Leser an die Lektüre. Aber ob das Licht wirklich so sehr geflackert hat – wer weiß das schon?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Außenministertreffen in Brüssel
„Europa spricht nicht die Sprache der Macht“