NGO-Vertreter über das Attac-Urteil: „Das geht in die falsche Richtung“
Selbstlose NGOs schauen Staat und Wirtschaft auf die Finger. Die Koalition muss die Gemeinnützigkeitszwecke erweitern, fordert Stefan Diefenbach-Trommer.
taz: Herr Diefenbach-Trommer, der Bundesfinanzhof (BFH) hat die Gemeinnützigkeit von Attac in Frage gestellt, weil Attac sich für konkrete politische Ziele einsetzt. Ist das Urteil ein Skandal?
Stefan Diefenbach-Trommer: Mit diesem Urteil werden zivilgesellschaftliche Organisationen behindert, statt sie zu stärken. Das Urteil geht also eindeutig in die falsche Richtung. Aber ich will keine Richterschelte betreiben. Man könnte auch sagen, der BFH hat die Schwächen des geltenden Gemeinnützigkeitsrechts schonungslos offengelegt. Jetzt gibt es keine Ausreden mehr: Die Regeln der Gemeinnützigkeit in der Abgabenordnung müssen endlich modernisiert werden. Die Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ fordert dies schon lange.
Was wollen Sie ändern?
Der BFH will verhindern, dass politische Aktivitäten aller Art über den Zweck „politische Bildung“ gemeinnützig werden. Das Gericht hält politische Aktivitäten nur dann für gemeinnützig, wenn sie sich auf konkrete im Gesetz genannte Gemeinnützigkeitszwecke beziehen, etwa den Umwelt-, Tier- oder Verbraucherschutz. Deshalb fordern wir als Sofortmaßnahme, dass bisher fehlende Gemeinnützigkeitszwecke neu aufgenommen werden, insbesondere der Einsatz für Grundrechte, Menschenrechte, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Datenschutz.
Und diese Erweiterung würde Attac helfen?
Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit beschreibt das Ziel von Attac doch ganz gut. Vielleicht sollte man auch den Einsatz für Steuergerechtigkeit noch aufnehmen.
Sind eigentlich alle NGOs von diesem BFH-Urteil betroffen – und in ihrer Gemeinnützigkeit bedroht?
Nein. Wer sich zum Beispiel für Umweltschutz oder auch für Flüchtlinge und Strafgefangene einsetzt, ist bereits auf der sicheren Seite, denn diese Zwecke stuft die Abgabenordnung heute schon als gemeinnützig ein. Wer sich aber auf Volksbildung, politische Bildung oder Förderung des demokratischen Staatswesens beruft, weil sich nichts Besseres fand, könnte Probleme mit dem Finanzamt bekommen.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass der Bundestag die Zwecke der Gemeinnützigkeit erweitert?
Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD heißt es, man wolle „das Gemeinnützigkeitsrecht verbessern“, um „die Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements“ zu fördern. Das ist zwar recht allgemein formuliert, aber es passt.
Einige CDU-Abgeordnete dürften sich gefreut haben, dass Attac die Gemeinnützigkeit entzogen wird …
Es ist traurig, wenn zivilgesellschaftliches Engagement nach einer Freund-Feind-Logik bewertet wird. Gewürdigt werden sollte eher, dass gerade Protestbewegungen oft Fachwissen und unterbelichtete Perspektiven einbringen. Sie nerven zwar, aber oft zeigt sich später, dass sie recht hatten.
Hoffen Sie auf die Sozialdemokraten?
Im Wahlprogramm 2017 hat die SPD angekündigt, sie wolle „gesellschaftspolitisch bedeutsame Bereiche in den Katalog gemeinnütziger Zwecke aufnehmen“. Das kann sie jetzt zeigen. Immerhin ist mit Finanzminister Olaf Scholz ein Sozialdemokrat für das Gemeinnützigkeitsrecht zuständig.
47, Vorstand der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, der achtzig Verbände und Vereine angehören.
Jenseits der aus Ihrer Sicht nötigen „Sofortmaßnahme“: was ist Ihr mittelfristiges Ziel?
Wir brauchen eine Diskussion über den Wert zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Demokratie und deren Rechtsrahmen, inklusive der Steuervorteile beim Spenden. Wirtschaftliche Lobbygruppen sind zwar nicht gemeinnützig, aber ihre Mitglieder – etwa Unternehmen – können ihre Beiträge an diese Verbände steuerlich absetzen. Deshalb wäre es nur gerecht, wenn selbstlose Organisationen generell als gemeinnützig eingestuft werden, weil sie Staat und Wirtschaft auf die Finger schauen.
Sie wollen, dass jeder Verein, der Missstände kritisiert und politische Forderungen erhebt, als gemeinnützig anerkannt wird?
Wir fordern erst einmal eine Diskussion darüber. Denn im Einzelnen ist das ziemlich komplex. Wir wollen natürlich nicht, dass Parteien die Schranken der Parteienfinanzierung umgehen können, indem sie einfach politische Vereine gründen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom