■ Frankreichs Linke hat gewonnen, Chirac verloren. Der zweite Blick zeigt: Die Dinge liegen etwas komplizierter: Mythos und Wirklichkeit
Die linken Parteien Frankreichs haben einen erstaunlich deutlichen Wahlsieg errungen. Die Sozialistische Partei allein hat die Zahl ihrer Parlamentssitze gegenüber 1993 vervierfachen können und ist die stärkste Fraktion geworden. Zum ersten Mal können grüne Kandidaten ins Parlament einziehen; sogar die Kommunistische Partei hat 14 Sitze dazugewonnen und steht mit 38 Mandaten besser da als in den 80er Jahren vor dem Fall der Berliner Mauer. Die erdrückende Vierfünftelmehrheit der rechten Koalition in der Nationalversammlung hat sich über Nacht in eine Minderheit verwandelt. Was ist in Frankreich passiert? Hat sich ein sogenannter politischer Erdrutsch ereignet, zwei Jahre nach der Wahl des Gaullisten Jacques Chirac zum Staatspräsidenten? Haben sich die Franzosen mehrheitlich wieder zum mythengeschmückten peuple de gauche, zum Volk der Linken, gemausert?
Das in Frankreich geltende Mehrheitswahlrecht bringt es mit sich, daß relativ kleine Kräfteverschiebungen innerhalb der Wählerschaft ausreichen, um im Parlament außerordentlich eindrucksvolle Mehrheitswechsel hervorzubringen. Über den Zahlen der gewonnenen und verlorenen Sitze darf nicht vergessen werden, daß fast die Hälfte des Wahlvolks in der neuen Nationalversammlung nicht repräsentiert ist: Zu den 30 Prozent nicht abgegebener und ungültiger Stimmen kommen 15 Prozent Stimmen für die Front National, denen ein praktisch nicht sichtbares Ergebnis, nämlich ein einziger Abgeordnetensitz, und zwar für den Bürgermeister von Toulon, Jean-Marie Le Chevallier, entspricht. Auf die Grünen waren im ersten Wahlgang nicht mehr als 3 Prozent entfallen, doch Wahlkreisabsprachen mit den Sozialisten sorgten dafür, daß sieben grüne Abgeordnete gewählt wurden. Die Zusammensetzung der neuen Nationalversammlung ist damit ein reichlich ungetreuer Spiegel dessen, was in der Bevölkerung Frankreichs gewünscht und verwünscht, was ersehnt und abgelehnt wird.
Politisch jedoch gibt es Sieger und Verlierer. Alain Juppé, der unpopulärste Ministerpräsident, den die Fünfte Republik je erlebte, wird an erster Stelle für das Desaster der Rechten verantwortlich gemacht. Er repräsentiert alles, was die Leute in Frankreich und sogar viele seiner Parteifreunde offenbar nicht mehr wollen – die Ämterhäufung (Premierminister, Bürgermeister von Bordeaux und Chef der Gaullistenpartei RPR), die Überheblichkeit des auf den Eliteschulen ausgebildeten Technokraten und die dort gezüchtete soziale Ahnungslosigkeit. Juppé war bereits die Zielscheibe der sozialen Agitation während der großen Streiks gewesen, die Ende 1995 das öffentliche Leben Frankreichs wochenlang lahmlegten. Doch Staatspräsident Chirac hatte die Botschaft überhört und Juppé ungerührt weiter im Amt gehalten. Als er ihn in letzter Minute vor dem zweiten Wahlgang aus dem Amt des Wahlkampfführers warf und durch das Tandem Philippe Séguin (RPR)/Alain Madelin (UDF) ersetzte, war es zu spät.
Der eigentliche Verlierer scheint somit Jacques Chirac zu sein. Er hatte sich offenbar vollkommen verrechnet, als er in der Überzeugung, trotz Juppé die Mehrheit der Wähler auf seiner Seite zu haben, Neuwahlen ansetzte. Den leeren Floskeln der Fernsehansprache, mit der Chirac diesen Entschluß bekanntgab, war nicht zu entnehmen gewesen, warum er und seine Strategen die Nationalversammlung mit ihren für den Staatschef äußerst bequemen Mehrheitsverhältnissen einem ungewissen Schicksal preisgaben. Doch vielleicht war der Stab des Élysée-Palasts in Wirklichkeit gar nicht so schlecht über die gegenwärtige Stimmung in der Wahlbevölkerung unterrichtet, wie es den Anschein hat. Es könnte ja sein, daß Chirac einen Wahlsieg der linken Parteien nicht nur ins Kalkül mit einbezogen, sondern einen Regierungswechsel durch die Parlamentsauflösung regelrecht angesteuert hat.
„Am Abend der Niederlage bereiten sich die Siege vor“, erklärte fast heiter der bisherige Erziehungsminister François Bayrou, wiedergewählter Abgeordneter der mit RPR und UDF verbündeten Zentrumspartei, am Wahlabend. Der sibyllinische Satz könnte etwas von dem Szenario verraten, das Chirac vorschwebt. Soll doch eine linke Koalition, mag er sich gedacht haben, eine Zeitlang die Geschäfte führen und sich an der dornigen Vorbereitung zur Einführung des Euro, an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, an der Sanierung des Staatshaushalts und der Reform des Sozialsystems die Finger verbrennen. Unterdessen kann sich das derzeit schwer zerstrittene und desorganisierte rechte Lager in Ruhe neu formieren, sich neue Chefs zulegen und gelassen zusehen, wie der Unmut über die linke Regierungspolitik der Front National immer mehr Wähler zutreibt. Das könnte RPR und UDF erlauben, sich eines Tages nicht nur als bessere Geschäftsführer, sondern auch als demokratische Retter der Republik zu präsentieren.
Der Sozialistenchef Lionel Jospin mokierte sich in der Woche zwischen den Wahlgängen über das aus dem neoliberalen Alain Madelin und dem in letzter Minute zu mehr Europafreundlichkeit hingeprügelten Gaullisten Philippe Séguin bestehende „barocke Gespann“, das dem Wahlvolk nach Juppés Abgang als Zugpferd der Rechten vorgestellt wurde. Der Spott könnte ihm im Blick auf seine eigene Koalition schon bald im Halse steckenbleiben. Zwei der fünf Parteien, aus denen sie besteht, die KPF und der „Mouvement des Citoyens“ Chevènements, sind erklärte Gegner des Vertrags von Maastricht. Die KPF, die Jospin zum Regieren braucht, ist seit je für die Atomenergie, die Grünen sind programmgemäß dagegen. An politischem Barock fehlt es auch dieser Linken nicht.
Jospin hat vor der Wahl unter anderem versprochen, Hunderttausende neuer Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen. Sollte er daran Abstriche machen, ist er angesichts der weiter anwachsenden Arbeitslosigkeit politisch tot. Setzt er das Versprechen um, muß er ein Haushaltsdefizit in Kauf nehmen, das die Einhaltung der Euro-Kriterien in Frage stellt. Vielleicht rettet ihn neben Glück ausgerechnet die bête noire vieler Franzosen, die Deutsche Bundesbank, mit ihren Überlegungen, den Termin der Währungsunion zu verschieben, eine Zeitlang mit über die Runden. Geht's schief, kann Chirac schon nach einem Jahr die Notbremse ziehen und das Parlament ein weiteres Mal vorzeitig auflösen. Bis ins Jahr 2002 ist immer noch er der Chef. Lothar Baier
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