Mustafa’s Gemüse-Kebap in Berlin: Den Döner neu denken!
Warum stehen wir Schlange für ein profanes Brötchen mit Gemüse? Irgendeinen Grund muss es geben, denn die Dönerbude am Mehringdamm 32 ist berühmt. Ein Erfahrungsbericht.
14.30 Uhr: Der Döner ist in Berlin kein knappes Gut. Pro Kopf gibt es in der Hauptstadt 1,3 Dönerbuden, Schlange stehen an einer solchen ist daher so, als ob man seinen Kopf ganz feste und mindestens eine halbe Stunde an einen Baum schlägt und den Wald drumherum nicht sieht. Wer macht so etwas schon? Unglaublich viele junge, gut ausgebildete Menschen am Mehringdamm 32, Stadtteil Kreuzberg. Mustafa’s Gemüse-Kebap zieht sie aus allen Teilen der Welt an wie die Steilküste den Lemming.
Der absichtslose Passant wähnt sich sogleich in einem Dokumentarfilm über den Alltag in der DDR der späten Achtziger Jahre, nur dass die Wartenden hier keine Dederon-Einkaufstaschen in Händen halten, sondern die obligatorischen Jutebeutel der Generation Facebook. Aber warum tun sie das? Das Internet, so hört man, scheint schuld daran, dass sich die Jugend der Welt ausgerechnet diese eine Dönerbude ausgesucht hat.
Ein bisschen posten („Mustafa ist ein Muss“), twittern („geile Scheiße“) und googlen („bester Döner von Berlin“) – schon entstehen Missverständnisse. Und eine riesige Schlange. Oder liegt es doch am Produkt? Wartet am Ende der Schlange tatsächlich ein Premiumdöner? Der Kebap des 21. Jahrhunderts? Man soll sich neuen Entwicklungen nicht verschließen.
14.32 Uhr: Am Ende einer Schlange stehend ist der Mensch zunächst nicht glücklich – aber er kann auch nicht mehr zurück, sobald er nicht mehr der Letzte ist. Kaum hat sich hinter einem jemand eingereiht, ist man schon aufgerückt in der Rangordnung. Man hat nun etwas zu verlieren, den Platz in der Schlange nämlich. Man ist nun drin im System, aber welche Beschaffenheit hat es?
Ein Smartphone-Blick in das Internet ergibt: „Eine Warteschlange bildet sich, wenn mehr Anforderungen pro Zeiteinheit an ein System gerichtet werden, als dieses in derselben Zeit verarbeiten kann, die Nachfrage also die Leistung des Systems übersteigt. Eine Schlange Wartender bildet sich meist infolge fehlender Anpassung auf beiden Seiten.“
Die Schuldfrage wäre also geklärt: Einerseits sind die Jungs von Mustafa’s Gemüse-Kebap einfach zu langsam, andererseits ist man selbst einfach zu dämlich, wenn man sich hier anstellt. Oder ist es doch komplexer? Anpassungsleistungen? Man muss erst mal mitmachen, scheint es. Und dann kann man das System womöglich von innen heraus reformieren.
14.34 Uhr: Ein Kollegin fährt mit dem Fahrrad vorbei, hoffentlich hat sie mich nicht gesehen. Womöglich hält sie mich für jemanden, der total naiv auf kapitalistisch-globalistischer Propaganda reinfällt. Künstliche Verknappung! Uralter Trick. Ich komme mir vor wie ein Apple-Opfer, das morgens um sechs Uhr vor irgendeinem Flagship-Store in der Kälte steht, um ein überflüssiges Gerät zu kaufen. Blicke kurz unauffällig auf mein Smartphone: Ist ein iPhone I eigentlich retro oder schon Vintage? Und ist das hier eine Trend-Veranstaltung oder eine Touri-Verarschung?
14.36 Uhr: Die Arbeiter von Fräsdienst Böse lassen ihre lärmenden Gerätschaften ruhen, mit denen sie den Mehringdamm aufreißen. Sie reihen sich nicht in die Schlange ein, sondern gehen zur benachbarten Currywurstbude. Aber was wissen die schon vom Döner des 21. Jahrhunderts!
sonntaz
Diesen und weitere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 16./17. Juni 2012. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
14.38 Uhr: Diese Leute, mit denen ich hier in der Schlange stehe – sie sind die Zukunft Europas. Der Welt! Vor mir ein junger Spanier mit seiner Freundin. Er ganz zeitgemäß postmaskulin und röhrenbehost. Muskeln hat man nicht mehr, Gemüsekebab, kein Fleisch, das zu Fleische wird. Sie im Unisex-Look, über Humangenetik sprechend auf Deutsch mit spanischem Akzent. Hinter mir halb Harvard. iDöner.
14.49 Uhr: Den Döner neu denken! Wer behauptet, dass früher alles besser war, hat glatt gelogen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie oft ich mir in den Neunziger Jahren in abgeranzten Dönerbuden den Magen verdorben hatte. Zweimal? Dreimal? Billig, fett und viel.
Wie gut, dass die jungen Leute von heute ein Bewusstsein für nachhaltige Ernährung entwickelt haben. Sie stopfen sich nicht irgendwas rein. Stattdessen fotografieren sie ihr Essen und stellen es dann ins Netz. Nachhaltigkeit, Bio, Organic, all das. Eine bessere Welt ist möglich. Nie wieder Klimawandel und Urheberrecht. Es lebe die Polyamorie! Nieder mit Kulturkritik und zynischen alten Männern!
14.50 Uhr: Jetzt stehe ich hier schon zwanzig Minuten. Leichter Nieselregen benetzt die wartende Weltjugend und auch mich. Ich frage mich, ob der Jüngling vor mir in der Schlange womöglich einfach eine Essstörung hat. Und eigentlich sehen diese jungen Leute hier auch nicht wirklich gut aus, die wenigsten von ihnen. Jugend verzeiht vieles, sogar eine gefährliche Nähe zur Durchschnittlichkeit. Mein Rücken tut weh, und ich habe gerade zwanzig Minuten meiner Lebenszeit verbraucht. Hunger habe ich auch.
14.51 Uhr: Eine ganz, ganz alte, übergewichtige Frau mit riesigen Penny-Plastiktüten in den Händen watschelt an der Schlange vorbei. Sie hält an, weil ihr rechter Schuh aufgegangen ist. Sie kniet sich auf den Boden und befindet sich nun inmitten eines Schmutzhaufens, der aus einem aufgeweichten Baguettebrötchen und vertrocknet-schmierigen Salamischeiben besteht. Eine räudig aussehende Taube ruckt heran, pickt eine der Salamischeiben vom Boden.
14.52 Uhr: Ich bin schon ganz schön weit vorgerückt, am Schaufenster einer Bankfiliale befinde ich mich. Noch etwa vier, fünf Meter bis zu Mustafa. Werbung: „Warum ich so entspannt bin? Fragen Sie meinen Bankberater!“ Meiner würde antworten: Er ist nicht entspannt, sondern zermürbt. Und recht hätte er: Auf Fastfood zu warten ist einfach absurd. Mir schwant allmählich, dass ich in einer Art schwarzem Loch der Globalisierung gelandet bin. Im weltweiten Dorf gibt es nur eine einzige Dönerbude, und sie herum ist alles verregnet, feucht, schmutzig, laut.
14.54 Uhr: Was dreht sich da wohl für ein riesiger Klotz am Drehspieß? Ist das womöglich Tofu? Sensationell!
14.55 Uhr: Jetzt kann man endlich die Beschriftungen entziffern: Bei Mustafa gibt es Hähnchendöner. Geschredderte Hühner werden zu einem Trumm zusammengepresst und drehen sich an der Stange. Fleisch! Mit einem Ruck fühle ich mich in das 20. Jahrhundert zurückkatapultiert. Damals kam der Chicken-Döner erstmals schwer in Mode, als direkte Folge des Rinderwahnsinns. Andererseits geht die Schlange hinter mir nun bis zur Elbe – ich hoffe doch sehr und trotz allem, dass ich hier richtig bin. Wenn doch alle anderen auch so lange warten?
14.56 Uhr: Ich bin fast am Ziel. Mustafa ist heute zu dritt. Durch das linke Seitenfenster werden große Plastiksäcke mit Gemüse und Salat in die kleine Bude gewuchtet, auf der rechten Seite große Geldbündel an einen Boten herausgereicht. Ein kapitalistischer Kreislauf.
14.57 Uhr: Wäre es ein Akt des Widerstands jetzt einfach zu gehen?
14.58 Uhr: Alle vor mir bestellen gar keinen Gemüsekebab, sondern Chicken-Döner. Alle, wirklich alle, auch die Humangenetik-Spanier. Harvard sitzt mir im Nacken, ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich dachte, wir sind alle hier zusammengekommen, um die Welt besser zu essen?
15.00 Uhr: Mit klopfendem Herzen halte ich meinen Chicken-Döner mit Gemüse in Händen. Eine halbe Stunde habe ich auf diesen Moment gewartet.
15.05 Uhr: Aufgegessen. Schmeckt genauso wie beim Chicken-Döner bei mir um die Ecke in Neukölln, dessen Adresse ich auf keinen Fall verraten werde. Wie immer ist mir nach dem Verzehr eines Döners irgendwie schlecht. Und nur in einem winzigen Detail unterscheidet sich Mustafas Döner tatsächlich von den anderen: Er hat Minze unter den Salat gemischt.
Minze, es geht um Minze! Der Kapitalismus ist genau wie die Warteschlange eben auch nur ein System, und beide funktionieren, wenn man genügend Deppen findet, die mitmachen. Damit es den Beteiligten nicht langweilig wird, muss man nur ab und an eine gewisse Varianz hineinbringen. Gruß nach Harvard: It’s the Minze, stupid!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“