Musikvideos mit Spielkonsole gedreht: Schwieriger ist schöner
Zwischen kindlicher Regression und ästhetischer Revolution: Warum junge Indie-Bands ihre Musikvideos mit den Kameras alter Konsolen drehen.
Das Musikvideo zum Song „Immortals“ der luxemburgischen Alternative-Rock-Gruppe Rat October ist eine einzige große Spielerei. Während jedoch andere rumblödelnde Indiebands auf stechend klare Bilder setzen – möglich dank fallender Preise für hochauflösende Kameras –, katapultiert das Video von Rat October einen mit seiner Maximalauflösung von gerade mal 320×240 Bildpunkten in die verpixelten Frühzeiten von YouTube Mitte der Nullerjahre zurück.
Zum Vergleich: Gängige Fernsehmodelle können 3840x2160 (4K-Auflösung) darstellen. Bei Rat October ist das Schummrige aber kein technischer Fehler, sondern eine bewusste künstlerische Entscheidung: „Immortals“, das vor einigen Wochen online ging, ist das weltweit erste Musikvideo, das komplett mit der tragbaren Videospielkonsole Nintendo 3DS gedreht wurde. Hierfür griff die Band auf die zwei eingebauten Vorderkameras des Geräts zurück, das 2011 auf den Markt gebracht wurde und sich bis heute 73 Millionen Mal verkauft hat. Damit reiht sich „Immortals“ in eine noch erstaunlich übersichtliche Liste an Musikclips ein, bei denen Künstler*innen Konsolen wie den Nintendo 3DS und passendes Zubehör zum Filmen nutzen.
„Für das Lied hatten wir schon immer vorgehabt, ein spontanes Video von uns beim Rumalbern und Feiern zu drehen“, schreibt Alija Suljic der taz. Er ist Bassist und Backgroundsänger von Rat October. Der Einfall zur Umsetzung sei ihnen dann später bei einer Fahrt nach Amsterdam gekommen. Im Zug dorthin hätten sie mit der Kamerafunktion des Nintendo 3DS rumgespielt und sich für die Ästhetik begeistert. Einen direkten Zusammenhang mit dem Songtext gebe es nicht, sagt Sänger Fanfan Delaporte. „Es passt aber zur Kombination aus dem manchmal kindischen Image unserer Band und der düsteren Musik, die wir machen.“
Psychedelische Rorschach-Tests
Zurück aus Amsterdam sammelten die Band über mehrere Monate hinweg weiteres Videomaterial. Das aufklappbare Filmgerät – das ungefähr so groß ist wie zwei übereinander angeordnete Smartphones – sorgte dabei für einige Aufmerksamkeit. „Viele Leute fanden das Ganze witzig “, so Léa Giordano, die im Auftrag der Band einige ihrer Konzerte filmte, „und es sieht auch ziemlich funky aus, wenn du einfach mit einer Nintendokonsole filmst, während die Fotografen neben dir das dickste Material an sich hängen haben.“
Auch das Musikvideo zu „Vertigo“ der US-amerikanischen Indierockband Copes spielt mit dem Retro-Look. In den körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist zu sehen, wie die Band das Lied in ihrem winzigen Proberaum durchspielt und eine schwarze Katze über die Schlagzeugtrommeln hinwegtapst. Durch die geringe Auflösung wird das ohnehin enge Set noch beklemmender. Immer wieder kommen auch Spiegeleffekte zum Einsatz, die die Bandmitglieder und ihre Instrumente in psychedelische Rorschach-Tests verwandeln.
Léa Giordano, Filmerin
Gedreht wurde das Ganze mit der Game Boy Camera. Dabei handelt es sich um ein von 1998 bis 2002 produziertes Zubehör für die tragbare Game-Boy-Spielkonsole, mit dem sich Fotos aufnehmen, bemalen und mit Stickern verzieren lassen. Noch mehr als beim Nintendo 3DS wirken die Bilder der Game Boy Camera mit ihrer 128x112-Auflösung und auf vier Grautöne reduziertem Farbspektrum wie Relikte einer vergangenen Epoche. Da mittlerweile ganze Generationen mit Geräten wie dem Nintendo 3DS oder Game Boy groß geworden sind, werden die Geräte und Videospielästhetik möglicherweise von vielen Menschen mit den sorgenfreieren Zeiten der eigenen Kindheit assoziiert.
Alec Pugliese, Bassist von Copes, fiel diese emotionale Wirkung bereits während seines Studiums der bildenden Künste auf. „Ich benutzte damals ganz viele Videospiele und veraltete Technologie, um eine Bildsprache zu schaffen, die Zuschauer auf sentimentale Art und Weise erreicht.“ Dieses kollektive Unterbewusstsein zapfte Pugliese dann auch im Clip zu „Vertigo“ an, den er 2017 drehte. Bei den Dreharbeiten stellte ihn die veraltete Technik vor einige Herausforderungen. Weil die Brennweite der Game Boy Camera zu klein war und er nicht wie gewollt alles ins Bild bekam, musste er ein Fischaugenobjektiv an der winzigen Linse anbringen. Außerdem nahm die Kamera kein externes Audio auf, weswegen er später beim Schneiden darauf achten musste, dass die Bewegungen von Drummer Vinnie Burke zum Lied passten.
Unzählige farbige Punkte
Eben diese Schwierigkeiten sind es aber, die die Bands Musikvideos mit alten Videospielkonsolen drehen lassen. „Wir leben in einer Welt, in der alles einfach und direkt verfügbar ist“, so Pugliese, „ich finde nicht, dass daran irgendetwas falsch ist, Aber es tut gut, mal etwas Manuelles zu machen. Für mich fördern solche Herausforderungen die Kreativität.“ Fanfan ist der gleichen Auffassung. „Moderne Aufnahmetechniken, sowohl in der Musik als auch im Film, versuchen dem Künstler immer vollen Zugang zu ihren Werkzeugen zu geben, mit so wenigen Einschränkungen wie möglich. Unterschätzt wird dabei, wie schön es ist, sich eben an den Begrenzungen der Konsolentechnik abzuarbeiten.“
Hinzu kommt der günstige Preis der Filmgeräte. Bei eBay geht die Game Boy Camera schon für gerade mal 10 Euro weg, während der Preis der kompatiblen Game-Boy-Konsolen 50 Euro nicht überschreitet. Auch den neueren 3DS gibt es teilweise schon für unter 100 Euro.
Dass Videospielkonsolen auch ganz neue Sichtweisen eröffnen können, zeigt das Musikvideo zu „Sunday“ des Berliner Elektropop-Duos Sissi Rada aus dem Jahr 2015. Die dargestellten Menschen, Tiere und Objekte bestehen aus unzähligen animierten farbigen Punkten, die sich anscheinend nicht auf eine feste Form einigen scheinen. Wann immer sich die Körper im Video bewegen, ziehen sie Schlieren hinter sich her – so als ob sie an mehreren Stellen in der Zeit gleichzeitig existieren würden.
Das Video wurde vollständig mithilfe von „Microsoft Kinect V2“ aufgenommen, einem von 2013 bis 2017 hergestellten Zubehör für die Spielkonsole Xbox One. Dank einer Kombination aus Streifenprojektion, Infrarotsensoren sowie einer Farbkamera kann diese die Bewegung von Spieler*innen erkennen und verarbeiten. So ermöglicht der Clip es gewissermaßen, die Welt durch die Augen einer Maschine wahrzunehmen.
„Nintendographie“
„Da der Text von ‚Sunday‘ sehr viele verschiedene Episoden und verträumte Momentaufnahmen erzählt, kam schnell die Idee, das abstrakt und abgewandelt aufzugreifen“, so Johannes Timpernagel vom Animationsstudio „schnellebuntebilder“, die den Clip für Sissi Rada drehten. Ein halbes Jahr dauerten die Arbeiten am Musikvideo. Allein die Postproduktion nahm zwei Monate in Anspruch, weil das Studio unter anderem noch ein Programm zur Kreation der kleinen Partikel entwickeln musste, die im Video umherschwirren.
Bislang sind Clips wie die von Rat October, Copes und Sissi Rada Raritäten. Eine richtige künstlerische Bewegung, die Musikvideos mit Videospielkonsolen dreht, zeichnet sich noch nicht ab. „Videospiele und überholte Technologie hatten definitiv einen Impact auf die aktuelle Popkultur“, meint Pugliese, „aber auch wenn die Ästhetik derzeit populär ist, benutzt der Großteil der Musikvideomacher nicht die Geräte von damals.“ Wirklich verübeln kann der Copes-Bassist es ihnen nicht. „Es ist hart, nicht von der neuen Technik angezogen zu werden“, gesteht er, „immerhin ist es 100 Mal einfacher auf einem iPhone zu filmen und einen VHS-Filter zu benutzen, damit das Video so wirkt, als ob es aus den 1990ern käme.“
Nicht zuletzt wegen den positiven Reaktionen auf ihre Videos wollen zeigt das Musikvideo zu „Sunday“ des Berliner Elektropop-Duos Sissi RadaPugliese und „schnellebuntebilder“ aber weiterhin auf Spielekonsolen als Aufnahmegeräte zurückgreifen. Und auch Rat October überlegen sich, bei einem ihrer nächsten Clips die 3D-Funktion der Nintendo 3DS-Kameras zu nutzen. Die ermöglicht es, Videos in 3D aufzunehmen und auch auf dem Gerät abzuspielen. Einen Namen für diese neue Art von Musikvideos hat die Band jedenfalls schon mal parat: „Nintendographie“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!