Musikalische Kooperationen: Poesie und Abgründe des Evergreens
Der Weg über Genregrenzen bringt Perlen hervor: Lady Gaga tanzt mit einem Jazz-Senior; Scott Walker schwelgt mit dem US-Duo Sunn O))).
Mit der Lust an der Überschreitung erzielt Lady Gaga glänzende Ergebnisse. Was das Visuelle angeht, die theatralische Darstellungsvielfalt in ihren inszenierten Bilderwelten, nutzt die 28-jährige US-Amerikanerin diese Ebene so schamlos aus wie kein Popstar vor ihr. Und sei es nur, um ihren 42,5 Millionen Followern auf Twitter Tag für Tag ein Selfie zu präsentieren: So sehe ich also im durchsichtigen weißen Schlauchkleid beim Warten in einer Flughafen-Transitzone aus. Wie bitte?
Ihre Musik rückte in dieser 24/7-Performance zwangsläufig nach hinten, Gagas Songauswahl wirkte oftmals uninspiriert. Gefühle zeigen im Showbusiness? Die Antwort der amerikanischen Künstlerin klang lieblos. Vielleicht sogar mit Absicht. Umso schockierender, dass sie als Währung für ihr neues Album „Cheek to Cheek“ nun die Liebe zur Musik ausgibt. Plötzlich präsentiert sie eine ausdrucksstarke Stimme ohne jede Verfremdung, verzichtet beim Singen auf den bewährten Autotune-Effekt. Auch in ihren Videoclips sieht man sie neuerdings beim Aufnahmeprozess, hinter einem Neumann-Mikrofon sitzend, das Textblatt immer im Blick: harte Arbeit, auch das natürlich als genau getimte Inszenierung.
Zusammen mit dem 88-Jährigen Entertainer und Sänger Tony Bennett hat Lady Gaga nun „Cheek to Cheek“ veröffentlicht, ein Album mit Jazzstandards und Klassikern des Great-American-Songbook. Das Duo interpretiert etwa Songs aus der Feder von Cole Porter (346531/anything-goes-tony-bennett-und-lady-gaga:„Anything Goes“), Irving Berlin („Cheek to Cheek“) und Billy Strayhorn („Lush Life“). Entscheidend an Auswahl und Vortrag wirkt dabei nicht, dass Gaga neben einem Unterhaltungskünstler brilliert, der seit 1952 im Geschäft ist. Sondern es geht um eine möglichst getreue Interpretation des Songmaterials.
„Danke, dass Lady Gaga diese Musik lebendig macht“, schreibt Bennett im Booklet. Lady Gaga vergegenwärtigt die Kulturgeschichte nicht nur durch ihre stimmliche Präsenz. Die eigentliche Leistung ist, dass sie ihre eigene Generation mit „Cheek to Cheek“ überhaupt erst mit Humanismus, Poesie und den Abgründen dieser Evergreens vertraut macht; eine Generation, die Emoticons setzt, statt Gefühle zu beschreiben, und den Shitstorm als normal empfindet.
Little Monsters nennt Lady Gaga ihre Fans. Die kriegen im Booklet zwar Schnappschüsse ihrer burlesken Heldin in Strapsen neben einem Senioren mit gelb getönten Brillengläsern: Eine Fotostrecke im Vice-Magazin könnte nicht pornomäßiger aussehen, ansonsten ist die Musik aber züchtig verhüllt.
Gaga-Fans müssen sich nun erst mal in einer Klang- und Zeichenwelt zurechtfinden, die so prähistorisch anmutet wie die Titelmelodie des „aktuellen sportstudios“ im ZDF. Wo Lady Gaga jetzt ist, war der US-Sänger Scott Walker bereits Mitte der sechziger Jahre: ein gefeierter Popstar an der Spitze der Charts, der die Songs anderer Künstler brillant interpretierte. Die Zeit im Rampenlicht bekam Walker so schlecht, dass er freiwillig ins Kloster ging und mit einer Stimme zurückkehrte, die er im Selbststudium an gregorianischem Gesang geschult hatte. Walker wurde so zum Meister der gedehnten und gepressten Vocals. Monsterhafte Koloraturen paart er auf seinen spärlich erscheinenden Soloalben mit stets düsterer Klangsignatur. Wenn es der Sache dieser Drastik dient, klopft Walker auch mal mit der Hand auf ein großes Stück Schinken, um einen Song über die öffentliche Hinrichtung von Benito Mussolini und seiner Freundin plastisch klingen zu lassen.
Für sein neues Werk „Soused“ spannt sich der 71-Jährige mit der US-Drone-Metal-Band Sunn O))) zusammen. Metal-Ultras, die sich seit geraumer Zeit ausschließlich der Alchemie von tiefen Basstönen und schwermetallischen Gitarrenriffs widmen. Beide Seiten holen aus ihren Asservatenkammern jeweils das Unbehaglichste hervor und landen damit trotzdem jenseits der klanglichen Klischees.
Synthesizer knallen wie Peitschen, Feedback-Schlaufen wummern, dazu singt Walker über das kaputte Amerika, so unwirklich, wie es ihm aus der Entfernung seiner britischen Wahlheimat erscheint. Seine Stimme rasselt wie ein Skelett durch diese forensische Sammlung von Geräuschen und Erinnerungen. „Maximale Lautstärke führt zum krassesten Ergebnis“, wird auf der Rückseite des Albums verkündet. Es ist als Warnhinweis zu verstehen.
Die Texte handeln von Stasi-Beschattung, Halsketten, die aus Feuerameisen bestehen, und Müttern, die ihre Kinder umbringen. Zum Auftakt singt Walker fast neun Minuten über die Prügel, die der Schauspieler Marlon Brando in seiner Kindheit im US-Bundesstaat Nebraska vom Vater bezogen hat („Brando, Dweller on the Bluff“). Seine Stimme schwelgt geradezu in dem Leid der anderen. Man sollte sich die Musik bei hellstem Licht anhören.
Leser*innenkommentare
JohnReed
Danke für den Scott-Walker-Beitrag. Er macht ja mit seinen Solo-Alben ("TILT"!) die so ziemlich abgedrehteste, aber auch großartigste Musik überhaupt, findet aber selten angemessene Würdigung.
DER Nico
"Synthesizer knallen wie Peitschen, ..."
Eher Peitschen die wie Peitschen Knallen:
Scott Walker auf the quietus.org:
"We got my friend Pete The Whipper down from Bristol to record the whips. Peter Gamble is the bullwhip champion of Great Britain. He came down on the train with nine bullwhips and we recorded all of them at the big studio."
Nur so am Rand...