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Musik-Jingles im FußballDann geht sie ab

Völlig losgelöst läuft nach Treffern der DFB-Elf neuerdings „Major Tom“. Die Torhymne bewegt plötzlich die Nation. Wie hat sie das verdient?

Tore wollen gehört werden: Der damalige HSV-Profi Rafael van der Vaart fordert 2008 Gesang, allerdings drohte „Life Is Life“ Foto: Sven Simon/imago

Wenn ich ein Verschwörungstheoretiker wäre, der nicht immer nur die Politiker im Kopf hat, sondern auch mal eine hübsch irre Wohlfühlgeschichte verbreiten möchte, dann würde ich jetzt eine Theorie zum Ereignis der Woche aufstellen. Die DFB-Chefclique hat gerade so viel Nerviges um die Ohren – Ausrüstertheater, Rüdiger-Finger-Trouble, Trikotaufregung wegen Pink (verkauft sich immerhin top) –, dass sie sich gedacht haben: Wir müssen irgendwas unternehmen, um das Land geschlossen hinter uns zu bringen.

Wenn schon der Habeck mit einer Patriotismus-Forderung kommt, um sein schlechtes Image zu polieren, dann können wir das erst recht. Wir haben doch jetzt eine Entertainment-Partnerschaft mit Tiktok. Könnten wir also nicht irgendwas mit Internet und Community und Viralgehen hinkriegen? Fragen wir doch mal Adidas, die bei uns ja noch in der Schuld stehen, weil wir nicht schon 2007 zu Nike gewechselt sind, obwohl die uns damals bereits das Fünffache des Adidas-Geldes geboten hatten.

Adidas, so meine Theorie, hat’s eingesehen, auch aus Patriotismus. Sodann haben sie den Werbespot für das neue pinke DFB-Trikot mit dem schönen alten NDW-Hit „Major Tom“ unterlegt und einen Social-Media-Aktiven in die Spur geschickt, der das Lied als neue Torhymne für die Nationalmannschaft fordert. Der Netzhopper, ein Max Kirchi, sollte natürlich nicht zu bekannt sein, damit es glaubwürdiger wirkt. Und dann ging es ab, völlig losgelöst von den Hintermännern.

Natürlich mit einer Online-Petition, eine der Top-5-Entbehrlichkeiten unserer Zeit. Der Initiator trommelte mit Gemeinschaftsgefühlen – „alle waren sich einig, dass der Song zu einem Gefühl des Neuanfangs in der Nationalmannschaft passte“ – und dann noch mit Nostalgie. „Er steht für mich für diesen Zeitgeist – einer Zeit, die wir durch unsere Eltern als die goldene Ära kennen.“ Neuanfang, Zeitgeist, goldene Ära. Vokabeln wie von PR-Einflüsterern.

Praktisch läuft alles anders

Die 10-Sekunden-Melodie tut nicht weh, weil sie mit etwas Tollem, einem Tor, verbunden ist

Kein Wunder, dass im Nu Zehntausende drauf ansprangen und die mit dem Niedergang der Nationalmannschaft verbundene DFB-Torhymne „Kernkraft 400“ des Technoprojekts Zombie Nation abwählten. Obwohl sich der DFB erst zierte, hat er des Volkes Stimme dann doch erhört und beim Niederlande-Spiel eingesetzt (wird das eigentlich auch auf die Frauen-Auswahl ausgedehnt?). Aus DFB-Sicht super gelaufen. Ähnliche Sanierungsarbeiten am Nationalelf-Image kann man mit dem offiziellen Entertainment-Partner Tiktok noch öfters machen.

Soweit meine Verschwörungs­theorie. Praktisch läuft das natürlich anders. Da kriegt jemand einen Ohrwurm, weil er sich zu oft den Adidas-Werbeclip im Internet angeguckt hat, und denkt sich: Ach, da müsste man doch mal wieder was in die Welt blasen, was die nicht braucht, aber irgendwie auch gute Laune bringt. Und gleich in doppelter Hinsicht landet man da halt beim Thema Torhymne. Die Zehnsekundenmelodie tut nicht wirklich weh, weil sie für den Fan ja mit etwas Tollem, einem Tor der eigenen Mannschaft, verbunden ist. Es sei denn, man hat auch im Jubel noch ein Ohr frei und spürt schmerzlich das torbegleitende Nervstück, wie im Falle von Oliver Pochers „Schwarz und weiß“, das jahrelang bei den DFB-Heimspielen aus den Stadionboxen schallte.

Im Prinzip sind Torhymnen nur die kleine Spitze des Berges an Musikmaterial (oder Schrott), das sich über die Jahrzehnte in den Stadien wie überhaupt rund um den Fußball angehäuft hat. Vor, während und nach dem Spiel werden die Fans beschallt, was dem Partygefühl beim Livefußball an einem Spieltag absolut zuträglich ist. Es kommt natürlich darauf an, ob man mit der Art der Musik, die der Stadion-DJ vorgibt, etwas anfangen kann. In vielen Stadien würde ich, ehrlich gesagt, die Krise kriegen.

Tony Marshall und Franz Lambert als Vorgänger

Bemerkenswert ist, dass die Torhymne auch beim ansonsten arg kommerzkritischen Fan offenbar nicht als Ärgernis gilt. Wo bei den Ultras der Vereine ansonsten möglichst viel Fußball pur gewünscht und der Fußballromantik gehuldigt wird, werden die Tor­jingles weitestgehend akzeptiert oder sogar gewünscht. Wogegen nichts zu sagen ist, jeder soll sich so vergnügen, wie er will. Wenn man sich als Verein nicht darauf verlassen will, dass seine Fans auch ohne Jingleeinsatz eine wilde Torparty unter Bierduschenspritzern veranstalten, soll er halt auch den Torjubel eventisieren. Auf die Nationalelf und auf Turniere wie die Welt- oder Europameisterschaften trifft das erst recht zu.

Dort ist es in gewisser Weise geradezu konsequent, denn schon bei der ersten Fußball-WM, 1930 in Uruguay, erschallte Musik aus den Stadionlautsprechern. Im Stadion von Montevideo wurde das Publikum mit Tangoschlagern erfreut. Später traten oft Blaskapellen in der Halbzeit der Länderspiele auf. Und vor einem WM-Spiel beim Turnier 1974 sang sogar der Schlagersänger Tony Marshall auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions. Richtig verrückt wurde es 1978, als der Hammond-Orgel-Spieler Franz Lambert nicht nur für die DFB-Elf zum Kaffee im argentinischen WM-Quartier spielte, sondern auch in der Halbzeitpause beim 2:3 gegen Österreich in Córdoba auf dem Platz, unter anderem den „Radetzkymarsch“ und „Buenos Dias Argentina“.

Das Spiel selbst war lange Zeit tabu. Aber auch das änderte sich in den 1970ern. In Düsseldorf wurde bei Toren von Fortuna eine Weile angeblich ein Werbejingle einer Brauerei eingespielt („Ein schöner Tag“). Dass irgendjemand statt einer Werbemelodie ein normales Stückchen Musik nach Toren spielte, war insofern ein Fortschritt. später kam es gar zu einer Diversifizierung, indem zuweilen Wunschmelodien den jeweiligen Torschützen eingespielt wurden. Hörbar auch auf der CD „HSV-Torjingles Saison 2007/08“, mit Songs wie „Life Is Life“ oder „Macarena“. Schlimm.

Heute hat sich das obskure Kleingenre Torhymne in der ganzen Bundesliga durchgesetzt. Hier „Candan“, da Scooter, dort ein Karnevalsmarsch. Allein der 1. FC Union Berlin verzichtet zum Wohlgefallen seiner Fans auf die Jingelei an der Alten Försterei. Dafür haben sie dort in dieser Saison eine Art Gegentorhymne nicht gespielt, sondern gesungen. Nach dem 0:2-Treffer gegen Stuttgart stimmte das ganze Stadion „Always Look on the Bright Side of Life“ an. Taugt als dauerhaftes Partyritual aber auch nicht richtig.

Von Gunnar Leue ist erschienen: „You’ll Never Sing Alone. Wie Musik in den Fußball kam“, Ventil-Verlag 2023, 256 S., 28 Euro.

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