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■ Multikulti und Integration von Migranten sind aus der Mode gekommen. Doch linker Alarmismus hilft nicht weiterToleranz gegenüber der Intoleranz?

Ist Deutschland fremdenfeindlicher geworden? Folgte auf das kurze Hoch der Lichterketten wieder das erwartbare Dauertief der Xenophobie? Haben die deutschen Deutschen der multikulturellen Gesellschaft den Laufpaß gegeben? Die linken Alarmisten sehen sich bestätigt: In Ostdeutschland nimmt die fremdenfeindliche Gewalt zu, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts kommt nicht voran, und der Spiegel – sonst für korrekte Gesinnung bekannt – konstatiert das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft.

Kein Zweifel, die deutsche Vereinigung hat das Thema „Einwanderungsgesellschaft“ vorerst von der Agenda verbannt. Kein Zweifel, das Geharke um eine kleine Reformierung des Staatsbürgerrechts ist mehr als kläglich. Kein Zweifel, auch in der sich liberal gebenden Öffentlichkeit sinkt die Toleranzschwelle. Dennoch gibt es keinen Grund, die allfällige Fünf- vor-zwölf-Rhetorik zu bemühen. Die bürokratischen Multikulti- Freunde geben sich zwar redlich Mühe, das Problem exakt der klassischen Rechts-links-Front zuzuordnen. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter.

Doppelte Staatsbürgerschaft: Alles spricht dafür, sie denjenigen „Inländern mit fremdem Paß“ bis zum 18. Lebensjahr einzuräumen, die in Deutschland geboren wurden. Nicht als erster Versuch, das Prinzip der einen Staatsbürgerschaft aufzuweichen und die Loyalität dem einen republikanischen Gemeinwesen gegenüber durch eine weniger verbindliche Doppelloyalität zu ersetzen, sondern als ein Weg, den hier geborenen Ausländern die freie Wahl der Staatsbürgerschaft zu ermöglichen.

Daß sich auf dem Gebiet der Staatsbürgerschaft nichts bewegt, hat natürlich mit der verbreiteten Überzeugung zu tun, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit habe man andere Sorgen. Das ist eine miserable Ausrede. Ein moderner Staat in Zeiten der Globalisierung muß erstens den im Land geborenen Ausländern offensiv die Möglichkeit eröffnen, Inländer zu werden – andernfalls verstärkt er massiv ein ohnehin schon vorhandenes Konfliktpotential. Und er muß zweitens Zuwanderung auch in schwierigen Zeiten ermöglichen und regulieren.

Trotz und wegen Rostock, Mölln, Solingen: Die Einsicht in diese Notwendigkeit beginnt sich durchzusetzen, und es wird für sie auch eine parlamentarische Mehrheit geben. In dieser Legislaturperiode jedoch kaum. Das hat damit zu tun, daß die jungen CDU-Abgeordneten, die für eine Reform eintreten, nicht immer standfest und geschickt agierten; es hat mit der Unentschlossenheit der SPD zu tun, der dieses staatsbürgerliche Problem einfach nicht wichtig genug war; und es hat vor allem mit dem in dieser Frage altkonservativen Innenminister Manfred Kanther zu tun. Wer auch immer im nächsten Jahr Bundeskanzler wird, sein Innenminister wird wohl nicht mehr Kanther heißen. Dann werden die Karten neu gemischt.

In der Frage von Zuwanderung und Multikultur hinkt Deutschland institutionell hinter ihrer Wirklichkeit her. Dennoch gibt es keinen Grund, den Spieß umzudrehen und die multikulturelle Wirklichkeit der Bundesrepublik zu verklären. Denn Multikultur ist nichts, was per se die Demokratie stärken würde. Im Gegenteil.

Wir haben uns darauf geeinigt, die Zuwanderung – die in modernen, offenen Gesellschaften ohnehin nie ganz zu unterbinden ist – als Bereicherung zu sehen. Das stimmt sicher, und dafür lassen sich Indizien zuhauf anführen, von der erweiterten Nahrungspalette bis hin zur kulturellen Brechung des stur deutschen Selbstverständnisses. Doch hat Zuwanderung immer auch eine andere Seite, über die in fortschrittlichen Kreisen weniger gern gesprochen wird. Zwar stellen Zuwanderer in der Regel Toleranz und Reflexivität der aufnehmenden Gesellschaft auf die Probe; das heißt aber keineswegs im Umkehrschluß, daß Zuwanderung per se das zivile, republikanische Vermögen der gesamten Gesellschaft vermehrt.

Es kann nämlich auch das Gegenteil der Fall sein (erst recht in einem Gemeinwesen wie dem bundesdeutschen, dessen demokratische Erfahrung noch nicht von allzu langer Dauer ist). Viele Zuwanderer bereichern die aufnehmende Gesellschaft vorerst allenfalls um vormoderne Bewußtseinsformen. Die historische Erfahrung lehrt, daß ein Großteil der Zuwanderer über kurz oder lang die aufnehmende Gesellschaft und ihre Kultur für die bessere hält und den Weg der Integration beschreitet (der zumeist ein Stück mehr Assimilation beinhaltet, als die reine Lehre von der Multikultur behauptet). Die historische Erfahrung lehrt aber noch mehr.

Erstens, daß Zuwanderung oft genug zu Konflikten führt. Das passiert insbesondere dann, wenn die aufnehmende Gesellschaft über kein gefestigtes republikanisches Selbstgefühl verfügt. Die Zuwanderung lockt dann gewissermaßen das eigene vormoderne Potential der aufnehmenden Gesellschaft hervor und aktualisiert es (die Geschichte der USA ist voller Beispiele dafür). Und zweitens lehrt die historische Erfahrung, daß sich Zuwanderer – weil sie gewahr werden, daß sie nicht willkommen sind – von der Mehrheitsgesellschaft abschließen und sich ihrer traditionellen Kultur und Religion zuwenden können. Oft betrifft das nicht die erste Generation, die noch fest in ihrer Herkunftskultur wurzelt, sondern die dritte: also die, die in der „neuen Heimat“ geboren ist und dennoch als Ausländer gilt. Für sie kann die aggressive Abkehr von den Werten der demokratischen Gesellschaft attraktiv werden (vgl. Wilhelm Heitmeyer u.a., „Verlockender Fundamentalismus“).

Sie soll kommen: die doppelte Staatsbürgerschaft bis zum 18. Lebensjahr. Man sollte sich aber von ihr in Zeiten unklarer Zukunftsperspektiven für die Mehrheit aller Jugendlichen nicht zuviel versprechen. Auch mit ihr wird für nicht wenige Jugendliche türkischer Herkunft der islamische Fundamentalismus verlockend bleiben.

Denn er setzt den Schein sicherer Identität gegen die beschwerlichen Zumutungen der offenen Gesellschaft. Und die fundamentalistisch drapierten Jugendlichen können auch deswegen so kraftvoll auftreten, weil sie ganz genau spüren, daß es die Mehrheitsgesellschaft mit ihren Werten keineswegs so genau nimmt und um des lieben Friedens willen zu Toleranz gegenüber der Intoleranz neigt. Das heißt im Umkehrschluß: Zur gelingenden, multikulturellen Gesellschaft gehört auch das – demokratisch, kulturell, historisch und religiös begründete – Selbstwertgefühl der Mehrheitsgesellschaft. Thomas Schmid

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