Mülheimer Theatertage: Kritik ist Liebe
Ihre Heimat ist der Widerspruch: Sivan Ben Yishai oszilliert zwischen Drastik und Präzision. Ihre Stücke sind auf den Mülheimer Theatertagen zu sehen.
Provokant, poetisch, drastisch – viele Adjektive liest man derzeit über Sivan Ben Yishai in der internationalen Presse. Adjektive, die sie nicht mag. Treffender wäre ohnehin: präzise. Ihre Sprache besticht durch sezierende Präzision. Mannheim – wo sie Hausautorin war – nennt sie „Frauheim“. Israel ist für sie „Israel-Palästina“.
Als Theaterautorin stellt Ben Yishai Fragen neu, die nie beantwortet wurden, nur leiser geworden sind. „Es ist nicht immer einfach, die difficult bitch zu sein, die immer etwas zu sagen hat, immer die Sprache korrigiert und immer darauf hinweist, dass manche Begriffe für mich nicht funktionieren. Trotzdem ist das eine Wahl“, sagt sie.
„Wenn deine Haut aber dunkler ist und du in Deutschland lebst – dann ist es keine Wahl. Wenn du als Frau unter Männern agierst, als Transfrau in einer heterosexistischen, patriarchalischen, durch Cis-Männer geprägten Gesellschaft lebst, hast du keine Wahl.“
Sivan Ben Yishai ist in der Welt solcher Gegensätze zu Hause. 1978 wird sie in Jerusalem geboren, studiert Theaterregie an der Universität Tel Aviv und lebt seit 2012 in Neukölln.
Mülheimer Dramatikpreis
In ihrem Stück „Wounds are forever – Selbstportrait als Nationaldichterin“, das jetzt für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert ist, thematisiert sie ihr Leben als Israelin in Deutschland. In Begleitung einer Schäferhündin reist eine Superwoman – „mehr Helden brauchen wir nicht“ – durch die Zeit vom Holocaust bis ins heutige Israel.
Sivan Ben Yishais Stück „Live Lovers do: Memoiren der Medusa“ läuft am 18. 5. 22 auf dem Berliner Theatertreffen, das vom 6. bis 22. Mai 2022 stattfindet.
Die 47. Mülheimer Theatertage „Stücke 2022“ laufen vom 7. bis zum 26. Mai 2022. „Wounds are forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ ist für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert.
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine bekommt ihr Ritt durch die Jahrzehnte eine brennende Aktualität, gerade für sie, die mit Bombeneinschlägen „nur 60 Kilometer Luftlinie vom Zentrum von Tel Aviv oder Jerusalem entfernt“ aufgewachsen ist: „Narben, Schmerzen und Traumata werden in den Körpern von mehreren Generationen überdauern – und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.“
Noch ist ihr zufolge keine eigene Sprache für die „neue Weltordnung, in der wir jetzt leben“, gefunden. Auch nicht für die Erschütterung der Menschen, die in der vermeintlich sicheren Mitte Deutschlands wohnen: „Sie verstehen, dass ein Ort, der nur 1.500 Kilometer entfernt ist, sich irreversibel verändert.“
Alternatives Hausprojekt in Berlin
Berlin lernt Sivan Ben Yishai in ihren Zwanzigern kennen, als sie Freunde in einem alternativen Hausprojekt besucht. Im Keller hatten sie ein Theater mit Emporen und einem Zuschauerraum gebaut. „Alles war so liebevoll gestaltet. Aber als ich zurückkam, war das Haus verkauft und ein normales, nobles Anwesen geworden. Die Mainzer Straße von damals gibt es nicht mehr.“
Der kreative Sehnsuchtsort war vergangen. Mit ihrem Umzug nach Deutschland wechselt die damals 33-Jährige nicht nur den Wohnort, sondern auch das Medium: „Ich habe begonnen, auf Englisch zu schreiben, um mich von der starken Bindung an meine Muttersprache zu befreien – und da begann eine völlig neue Reise.“
Umbruch und Sehnsucht, dieses Wort, das sich nicht in ihre Arbeitssprache Englisch übersetzen lässt, treibt Sivan Ben Yishais Schaffen an. Wenn sie eine Diskussion auf die Bühne hebt, glaubt sie daran, eine Veränderung anstoßen zu können. „Alle meine bisherigen Stücke sind ausnahmslos Liebesbriefe. Manchmal sind es Liebes- und zugleich Abschiedsbriefe.“
Indem sie die Gesellschaft anprangert, zieht sie das Publikum ganz nah zu sich, denn „Kritik ist Liebe“, sagt sie. Dann verschmelzen Sehnsucht und Radikalität auf der Bühne zu einer Botschaft. „Meine größte Angst ist, dass ich die Hoffnung verliere, dass die Leute wirklich zuhören, was man ihnen sagt. Dass eine Diskussion die nächste Revolution auslösen könnte.“
Drastik – etwa, wenn sie die Masturbationsfantasien einer Zwölfjährigen oder die inneren Konflikte überforderter Cis-Männer beschreibt, die sich in Gewalt entladen – ist ihr Vehikel für die bedingungslose, aber kritische Hinwendung zur Gegenwart.
Arbeit im verbundenen Dreieck
„Meine Arbeit bewegt sich immer in einem Dreieck: Die erste Ecke bildet das weiße, suprematistische, kapitalistische Patriarchat, die zweite Israel-Palästina-Deutschland und die Art, wie der Kriegsdiskurs in Deutschland stattfindet, und die dritte Institutionen, Machtmissbrauch und institutionelle Kritik“, sagt Ben Yishai. Die Ecken sieht sie als miteinander verbunden an.
Die Titel ihrer Stücke lesen sich wie Punkband-Alben. 2015 bringt sie „I know I’m ugly but I glitter in the dark“ auf die Bühne des Radialsystems. Bei den Berliner Autorentheatertagen 2017 führt sie mit „Your very own crisis club“ den ersten Teil der Tetralogie „Let the blood come out to show them“ auf.
Zwei weitere Teile entstehen als Auftragsarbeiten am Maxim Gorki Theater, der letzte „Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight soldiers moonsick)“ dann Ende 2018. Im selben Jahr schreibt sie auch das Stück „Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu“ für das Theater Lübeck.
Die Reinszenierung von „Liebe. Eine argumentative Übung“ begründet schließlich ab 2020 die ständige Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen unter der Intendanz von Barbara Mundel. Das Stück folgt Olivia Öl – der Freundin der Comicfigur Popeye – ab der Pubertät.
Olivia und Popeye
Aus Angst vor dem Alleinsein akzeptiert Olivia ein gemeinsames Heim, ein geteiltes Konto und die sexuelle Abhängigkeit vom brutalen Begleiter. „Olivia und Popeye waren eine großartige Kulisse, die alles ein bisschen weniger pathetisch macht, ein bisschen leichter – und die ich für meinen nächsten Angriff nutzen konnte“, sagt Ben Yishai.
Auch „Like Lovers do: Memoiren der Medusa“ folgt dieser Logik des selbstsicheren Spiels mit menschlichen Qualen. Es wird ebenfalls in München uraufgeführt. Im Mai zeigt sie das Stück beim Berliner Theatertreffen – dessen Jury beschreibt es vorab als „finster-poetisches Lied“ über Sexismus und sexuelle Gewalt.
Derzeit schreibt Sivan Ben Yishai an einem Text für eine Inszenierung von Ibsens „Nora“, die ab kommendem September auf dem Spielplan der Kammerspiele stehen wird. Den etwa 20-seitigen Prolog gibt es bereits.
Dass sie mit Schreiben ihr Leben verdient – also im Sinne Virgina Woolfs einen Raum, Zeit und ausreichend Geld dafür gefunden hat –, sieht Ben Yishai als Privileg an: „Ein Teil meines Morgenrituals ist ein Moment, in dem ich mir sage: ‚Sivan, guten Morgen. Wie toll ist das, dass du heute schreiben kannst. Das ist nicht selbstverständlich, denk daran.‘“
Manuskript im Fitnessstudio
Ihr Tag beginnt mit Radionachrichten, und bis in den Nachmittag widmet sie sich dann dem Schreiben – als „Termin mit mir selbst, zu dem ich auch komme“. Manchmal heißt das, ein Manuskript im Fitnessstudio zu bearbeiten. Manchmal muss sie vom Schreibtisch aufstehen, an einem Berliner Kanal entlangschlendern, einen Podcast anhören, kochen – „und dann setze ich mich wieder an meinen Computer und erledige die Arbeit von fünf Stunden oder Tagen in 30 Minuten“.
Täglich steht sie auch via Facebook mit ihrer 94-jährigen Großmutter in Austausch, die im nördlichen Israel – „Israel-Palästina“, betont Ben Yishai – in einem Kibbuz lebt. „Eine Generation zwischen uns zu haben, ermöglicht meiner Großmutter und mir mehr Offenheit und eine radikale Begegnung, einen wirklichen Austausch. Wir können anders über die Welt nachdenken.“
Ihre Großmutter hat ihr früher die Unabhängigkeit von klassischen weiblichen Rollenbildern vorgelebt und sie konsequent in ihren Lebensentscheidungen ermutigt – als „eine andere Vorstellung davon, was es bedeutet, eine Frau zu sein“. Heute allerdings mache sie sich manchmal Sorgen um den Lebensstil ihrer Enkelin. Sivan Ben Yishai lacht. Aber: „Sie gab mir eine Wahl.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach