Morde im China-Restaurant: Es durfte keine Zeugen geben
Im niedersächsischen Sittensen wurden Anfang 2007 sieben Menschen im Restaurant Lin Yue regelrecht hingerichtet. Nun wird der Prozess erneut aufgerollt.
Dass eine gewaltsame Befreiung der inhaftierten Angeklagten bevorstehen soll, wie der Richter verkündet, hören die Zuschauer mit Freude. Endlich ist mal was los. Die hinteren Sitzreihen sind deutlich leerer geworden, seit das Grauen über die Tat zäher Prozessroutine gewichen ist. Doch nun weiß eine ältere Dame lautstark zu berichten, dass dann Frauen besonders gerne als Geiseln genommen würden. Sie zupft den Lodenmantel zurecht, als bereite sie sich auf den erzwungenen Aufbruch vor. Ihre Sitznachbarin mustert die Wachleute: "Sind die überhaupt bewaffnet?" Da stellt auch noch ein Verteidiger einen Antrag auf Polizeischutz seiner Person. Der Vorsitzende Richter blickt hilfesuchend durch den Saal.
Der Richter braucht Hilfe, der Prozess im Landgericht Stade auch. Seit August vergangenen Jahres müssen sich fünf aus Vietnam stammende Männer für eine monströse Tat verantworten, einen siebenfachen Mord. Doch von Anfang an ist der Prozess im Streit um Zeugen und Akten ins Stocken geraten. In einer Woche soll er nun erneut beginnen.
Der Fall: In der Nacht des 4. Februar 2007 wurden im China-Restaurant Lin Yue im niedersächsischen Sittensen sieben Menschen ermordet: das Besitzerehepaar sowie fünf Mitarbeiter. Sie wurden gefesselt und mit Kopfschüssen getötet. Nur die zweijährige Tochter der Besitzer ließen die Täter am Leben.
Die Anklage: Drei der fünf Vietnamesen, die sich seit Ende August vor dem Landgericht Stade für die Tat verantworten müssen, sind wegen siebenfachen Mordes angeklagt. Die anderen beiden, der mutmaßliche Tippgeber sowie der Fahrer des Fluchtfahrzeuges, müssen sich wegen schweren Raubes bzw. Anstiftung dazu verantworten. Auf Mord steht lebenslange Haft. Für schweren Raub sieht das Gesetz eine Mindeststrafe von fünf Jahren Haft vor.
Der Prozess: Es geht noch einmal ganz von vorne los. Wegen der unvorhersehbaren Erkrankung einer Richterin muss die Kammer den Fall in anderer Besetzung verhandeln, der Prozess wird ab dem 9. Januar neu aufgerollt.
Es geht um eines der brutalsten Verbrechen der Nachkriegsgeschichte: Im niedersächsischen Sittensen sind sieben Menschen im Restaurant Lin Yue ermordet worden, das Besitzerehepaar sowie fünf ihrer Angestellten. Sie wurden mit Kabelbindern gefesselt, bis ihre Hände blau anliefen, dann hingerichtet, mit Schüssen in den Kopf. Einen Prozess solchen Ausmaßes, hatte der Vorsitzende Richter anfangs gesagt, "haben wir in Deutschland noch nicht gehabt".
Die Polizei fand einen Tatort vor, der selbst erfahrene Ermittler an die Grenze dessen brachte, was ein Mensch ertragen kann. Tote Körper mit zerschossenen Gesichtern. Leichen mit blutgetränkten Tüchern um den Kopf. Blut an den Wänden, der Decke, auf dem Boden. Nur die kleine Tochter der Besitzer hat überlebt. Man fand sie versteckt unter einer Decke, zwischen zwei Leichen, im Schock erstarrt. Mit ihren zwei Jahren war sie als Zeugin wohl keine Gefahr.
Mit den Angeklagten zieht eine Ahnung in den Saal ein, wie grausam die Tat war. Die fünf Vietnamesen sind klein, die Wachleute, die sie hereinführen, überragen sie klar. Und doch sind sie an Händen und Füßen gefesselt. Von jeweils zwei Bewachern werden sie zu ihrem Platz gezogen, ganz langsam, die Ketten an den Fußgelenken lassen Schritte kaum zu. Um nicht fotografiert zu werden, verstecken sie ihre Gesichter hinter Aktenordnern. Ein Angeklagter zieht sich die schwarze Robe seines Anwalts über den Kopf. Es sieht aus, als würde er zu seiner Hinrichtung geführt.
Ihre mutmaßlichen Opfer, die sieben Leichen, wurden vom Ehemann einer der Ermordeten entdeckt, der seine Frau in der Nacht des 4. Februar von ihrer Arbeit im Lin Yue abholen wollte. Niemand zweifelte zunächst daran, dass die Hinrichtung das Werk professioneller Killer gewesen sein musste. Solche Kaltblütigkeit traute die Polizei nur den Triaden zu, der chinesischen Mafia. Doch dann schnappte die Polizei zufällig Trong Duong Dao und Van Hiep Vu.
Van Hiep Vu gilt als tugendhafter Mensch. Gottesfürchtig, zurückhaltend. Der 31-Jährige hat lange im Gemeindehaus der katholischen St.-Paulus-Gemeinde in Stuhr bei Bremen gewohnt, sein Kontakt zum Pastor ist bis heute eng. Der Ruf von Trong Duong Dao hingegen ist schlechter unter Bremens Vietnamesen. Er hat mehrere Vorstrafen.
Als die beiden verhaftet wurden, waren sie zusammen im Mietwagen unterwegs, in der Jackentasche Kokain, die Stimmung war gut. Jetzt sitzen sie im Gerichtssaal knappe drei Meter voneinander entfernt und würden wohl selbst dann nicht miteinander reden, wenn ihnen das erlaubt wäre. Die tödlichen Schüsse, die einer aus der Familie Dao oder Vu abgegeben haben soll, haben aus den Freunden Gegner gemacht.
Die Gemeinsamkeit der Angeklagten liegt nur noch darin, dass alle zur Frage schweigen, was in jener Nacht geschah. Van Hiep Vu und Trong Duong Dao wurden am Tag danach bei einer Verkehrskontrolle aufgespürt. Eigentlich war die Polizei auf der Suche nach Schwarzarbeitern, ein Streifenwagen hatte sich bei Wildeshausen an der B 213 nahe einem fleischverarbeitenden Betrieb postiert. Als die Beamten den Polo mit den Vietnamesen anhielten, hätten sie an den Mord gar nicht gedacht, sagte der Beamte Helge T. - nicht einmal, als sie im Wagen einen Zettel mit einer Skizze samt Überschrift "Zittensen" fanden. Sie nahmen beide nur mit aufs Revier, weil sie Drogen und ungewöhnlich viel Bargeld bei sich hatten.
Über Van Hiep Vu und Trong Duong Dao kamen die Ermittler auf die Spur ihrer beiden Brüder Phong Cao Dao und Phuong Van Vu, 30 und 40 Jahre alt. Zudem verhafteten sie einen Ex-Hilfskoch des Lin Yue. Der 42-Jährige soll den Tipp für den Überfall gegeben haben.
Nun stehen sie in Stade vor dem Richter. Der will, dass sie stets gefesselt bleiben - schließlich trage er die Verantwortung für die Sicherheit im Saal. Doch die Rechte von Angeklagten kennt auch er, jetzt muss er sich von den Anwälten darauf hinweisen lassen. Schließlich lenkt er ein: Die Fußfesseln kommen ab. Die Zuschauerränge leeren sich.
Die Vermutung, die Täter von Sittensen hätten mit der chinesischen Mafia zu tun, hat sich nach der Verhaftung der fünf Vietnamesen schnell zerschlagen. Inzwischen geht auch die Staatsanwaltschaft davon aus, dass die fünf das Restaurant nur überfallen wollten, um an Geld zu kommen. Erst am Tag vor dem Überfall sollen die Brüder Dao und Vu entschieden haben, das Restaurant Lin Yue auszurauben. Als die letzten Gäste sich verabschiedet hatten, betraten sie laut Anklage das Lokal, fesselten die Besitzer und deren fünf Mitarbeiter, um ungestört nach Wertvollem suchen zu können. Offenbar übersahen sie dabei den Koch. Der versuchte zu fliehen, da eskalierte die Tat: Einer der Täter schoss ihn nieder. Jetzt gab es Zeugen für einen Mord. Sie wurden mit gezielten Kopfschüssen zum Schweigen gebracht.
Der Tatbeitrag der einzelnen Angeklagten ist noch ungeklärt. Drei von ihnen sind wegen der Morde angeklagt, doch wer tatsächlich der Todesschütze war, weiß das Gericht noch nicht.
Thienson L. betritt den Zeugenstand. Er war früher Küster der St.-Paulus-Kirchengemeinde, in der Van Hiep Vu wohnte. Er kennt ihn von klein auf. Als Van Hiep Vu in der Schule war, hat er ihm bei den Hausaufgaben geholfen, mit ihm auf dem Fußballplatz gebolzt. Jetzt kommt Thienson L. nicht umhin einzuräumen, dass sein alter Freund "an der Tat wohl beteiligt war. Wenn es so erdrückende Beweise gibt wie Blutspuren an den Schuhen, muss man das wohl glauben." Er schaut auf Van Hiep Vu, der den Kopf nach unten gesenkt hält. Dann sagt er: "Aber ich kenne ihn: Er ist ein Mensch mit Gewissen. Ich glaube nicht, dass er geschossen hat."
Auch Pastor Helmuth Schomaker kennt den heute 31-jährigen Van Hiep Vu schon lange. Mehrfach hat er seinen früheren Schützling in der Untersuchungshaft besucht. Seine Stimme wird trotzig, als er die Hoffnung äußert, Van Hiep Vu sei "vielleicht weniger an der Tat beteiligt gewesen als andere". Der Pastor hat sich an einer Spendenkampagne beteiligt, damit Van Hiep Vu einen guten Anwalt erhält. Vor allem einen, dessen Kanzlei nicht auch die Brüder Dao vertritt. "Es wäre problematisch, wenn die Anwälte aus einer Kanzlei sich gegenseitig bekämpfen müssten."
Die Familien der Angeklagten tun das bereits. Vor der Polizei soll Phuong Van Vu ein Teilgeständnis abgelegt haben, wonach allein Phong Cao Dao geschossen habe. Angehörige der Familie Vu, sagt dessen Anwalt Christian Rosse für die Brüder Dao, "machen unter Bremens Vietnamesen massiv Stimmung gegen meinen Mandanten". Aus dem Kreise der Vus stamme der Hinweis auf eine Befreiung der Angeklagten. Die Vus hätten versucht, den Daos einen Ausbruchsversuch anzudichten, um die Brüder als sehr gefährlich darzustellen.
Das wollen die nicht auf sich sitzen lassen. Auch ihre Angehörigen verbreiten Gerüchte. Zum Beispiel, dass Van Hiep Vu keinesfalls nur gottesfürchtig und ehrbar, sondern ein routinierter Räuber sei. Zur Verblüffung der Staatsanwaltschaft beschuldigt Anwalt Rosse vor Gericht Vu, wenige Tage vor dem Mord in Sittensen noch einen Raubüberfall in Essen begangen zu haben. Am 21. Januar hatten dort Unbekannte eine Familie überfallen, gefesselt und ausgeraubt. Einen Zusammenhang zum Überfall in Sittensen hat die Sonderkommission jedoch nicht hergestellt.
Anwalt Rosse aber sagt, er habe recherchiert: Ein Handy, das die Polizei bei Vu gefunden hatte, stamme nachweislich aus dem Essener Überfall. Dort wurde auch ein Laptop gestohlen. Den, behauptet Rosse, besitze heute Thienson L. - jener Freund aus der Kirchengemeinde, der vor Gericht nur gute Worte für Van Hiep Vu fand. Dessen Aussage erscheint plötzlich in ganz anderem Licht.
Der Wahrheit angenähert hatte sich das Gericht auch nach rund 20 Prozesstagen kaum. Im Gegenteil: Allmählich brachen die Beweismittel weg. Sein angebliches Teilgeständnis hat Phuong Van Vu vor Gericht nicht wiederholt. Eine Dolmetscherin, die bei der Polizei übersetzte, sprach so schlecht Deutsch, dass inzwischen die Frage im Raum stand, was sie da eigentlich zu Protokoll gegeben hat. Als sie vor Gericht auftrat, machte sie einen "nur bedingt aussagetüchtigen Eindruck", wie der Staatsanwalt vorsichtig formulierte: Sie vermischte Ereignisse, kannte kaum das juristische Fachvokabular. Zweifelhaft auch die Methoden der Polizei. Zu Beginn ihrer Ermittlungen hatte sie auch Thienson L. als Dolmetscher dabei - bis der schließlich offenbarte, ein Freund des Beschuldigten zu sein, dessen Vernehmung er gerade übersetzte. Zudem waren die Spurenakten, die den Verteidigern vorlagen, zu Beginn des Prozesses unvollständig. Offenbart hat sich auch, dass Polizeizeugen auf ihren Auftritt vor Gericht vorbereitet wurden. Die Sonderkommission hatte sie vor Prozessbeginn zu einem Seminar geladen.
Die Zuschauer spielen weitere Szenarien einer Gefangenenbefreiung durch. Man könne die Wachtmeisterin am Eingang als Schutzschild nehmen, schlägt die Dame im Lodenmantel eifrig vor. Das Gericht aber bleibt gelassen - und verkündet: Es würden keine weiteren Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW