: Moralisten auf dem Siegeszug
Großbritannien vor den Wahlen (I): Labour wird zur gigantischen Politmaschine, während die einst dominante Konservative Partei zerfällt ■ Von Dominic Johnson
Vergangene Woche erschien in Großbritannien die Art von Wahlumfrage, die John Majors Herz höher schlagen lassen müßte. Die regierenden Konservativen lagen da bei 43 Prozent, Labour folgte weit abgeschlagen mit 22, und hinten kamen die Liberaldemokraten mit neun und die europafeindliche Referendumspartei mit acht Prozent. Leider war dies keine allgemeine Umfrage, sondern eine Erhebung unter Kleinunternehmern – jenen etwa 800.000 britischen Geschäftsleuten mit einem Jahresumsatz von unter 100.000 Pfund (275.000 Mark).
Hier hat Premierminister Major, dessen Partei einen halben Monat vor den Parlamentswahlen am 1.Mai in fast allen Umfragen 15 bis 20 Prozent hinter Tony Blairs Labour-Opposition liegt, eine solide Basis. Diese Leute repräsentieren John Majors England – von Wales und Schottland redet man im Zusammenhang mit den Wahlaussichten der Konservativen lieber nicht. Es ist ein England der behüteten, festverwurzelten Mittelschicht, die in mittleren Städten mit mittleren Horizonten lebt und sich dabei ausgesprochen wohl fühlt. In diesen so zahlreichen und einander so ähnlichen Orten, geprägt von einem eng zusammenhaltenden Bürgertum und gruppiert um historische Marktplätze und ein paar Hochtechnologien, sind Klassengegensätze fast ausgestorben und Arbeitslosigkeit fast unbekannt; die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen ist etwas Fremdes, das Privatleben ist Privatsache, und die Hauptsorgen der Menschen drehen sich um die richtige Schulwahl fürs Kind und die pünktliche Ratenzahlung fürs Eigenheim.
Tony Blairs England – man sollte in Zusammenhang mit dem Schotten Blair lieber von Tony Blairs Großbritannien reden – ist anders. Es beginnt in einer Welt voller Bedrohungen, finsterer Ghettos, Werteverfall und drohender Armut, und es will hoch hinaus. Grandiose Aufbauprojekte verspricht der Chef von „New Labour“; er verlangt Investitionen und grundlegenden Wandel und will Großbritannien „in tausend Tagen für die nächsten tausend Jahre fit machen“. Seine Prioritäten nennt er „Bildung, Bildung, Bildung“, und ein Kernsatz seines Wahlprogramms lautet: „Labour wird Leistungsschwäche nicht tolerieren.“ Wo Margaret Thatcher großflächig das Alte vernichtete und John Major auf das Vorwärtskommen des einzelnen vertraute, will Tony Blair das ganze Land in einen Überschwang von Erneuerung hineinziehen. Blairs Großbritannien ist eine große Familie mit großen Zielen, die die Globalisierung nicht nur „akzeptiert“, sondern sogar „umarmt“ und in der Privates zu wichtig ist, um es Privatpersonen zu überlassen. Eltern sollen gute Eltern sein, Schüler gute Schüler, Lehrer gute Lehrer, Arbeiter gute Arbeiter, Unternehmer gute Unternehmer und Politiker gute Politiker; und für all dies gibt es Bildungs- und Fortbildungsprogramme, möglichst noch mit staatlichen Zielmarken, und einen Katalog von zehn Wahlversprechen namens covenant, was den Engländern ansonsten eher als bliblischer Ausdruck für die zehn Gebote geläufig ist.
Aber mit alldem liegt Labour immer noch in fast allen Umfragen über 50 Prozent und müßte richtig angestrengt Selbstmord begehen, um diese Wahl noch zu verlieren. Selten hat Großbritannien einen kurioseren Wahlkampf erlebt als den von 1997, wo die Opposition auftritt wie eine Regierungspartei und die Regierung am liebsten Opposition übt. Blair – der noch nie ein öffentliches Amt bekleidet hat – übt die staatsmännische Pose mit perfekt einstudierten Gesten und Phrasen vor Fernsehkameras, während der Politveteran Major sich energisch und hemdsärmelig in Marktplätzen auf Seifenkisten stellt und lustvoll Beschimpfungen mit dem Publikum austauscht. Tony Blair, Zögling einer Eliteschule, schmiert den Finanzmagnaten der City in Grundsatzreden Honig ums Maul und sagt: „Wir sind die Partei des Business“ – John Major, Kind einfacher Verhältnisse ohne Abitur, appelliert an den Stolz der kleinen Leute, die sich von keiner großkotzigen Regierung irgend etwas zu sagen lassen brauchen: „Niemand hat das Recht, besser behandelt zu werden als irgend jemand anders.“
Seit Blair 1994 mit seinem „Kreuzzug für Wandel“ begann, hält Labour kollektiv den Atem an und hofft inständig, nicht noch vor der Machtübernahme zu platzen. Was auf die Briten zukommt, wenn die Partei danach endlich wieder losprusten kann, läßt sich daher gar nicht genau sagen. Ihren bisher größten Fehltritt des Wahlkampfs beging Labour bereits im Januar, als Gordon Brown, Aspirant für den Posten des Finanzministers, verkündete, im Falle eines Sieges werde man sich strikt an die mittelfristige Finanzplanung der Regierung Major halten. Die enthält ein von allen Experten für völlig unrealistisch niedrig erachtetes jährliches Wachstum der Staatsausgaben um real 0,4 Prozent, wobei zum Beispiel die Ausgaben für das staatliche Gesundheitswesen überhaupt nicht steigen sollen. Kluge Köpfe sind davon überzeugt, daß Majors Finanzminister Kenneth Clarke sich das nur ausgedacht hat, um seinem Labour- Nachfolger nach der Wahl Probleme zu bereiten. Aber Brown, päpstlicher als der Papst, klebt eisern daran fest und kann den Wählern nun ums Verrecken nicht erklären, wo das Geld für Arbeitsbeschaffungsprogramme und für „Bildung, Bildung, Bildung“ herkommen soll. Steuererhöhungen? Sozialkürzungen? Neue Privatisierungen? Alle diese Dinge wären unpopulär, aber in diesem Dreieck bewegt sich Labour und führt damit die immense Mehrheit ihrer Aktivisten in einen Gewissenskonflikt. Roy Hattersley, der vom rechten Labour-Flügel stammende ehemalige Vizeführer der Partei, bezweifelte schon vergangenes Jahr, daß einfache Mitglieder im Wahlkampf freudig „im Regen an die Türen klopfen, um für eine restriktive Ausgabenpolitik zu werben“.
Aber was einfache Mitglieder denken, zählt bei Labour immer weniger. Blair hat die Partei zentralisiert und gestrafft, so daß „New Labour“ kein Freizeitverein für Weltverbesserer und Gewerkschaftsfunktionäre mehr ist, sondern eine Wahlkampfmaschine von furchterregender Effizienz. Ihre Aufsteiger sind die pragmatischen Profirebellen der Nach-68er Generation, deren höchstes Glück schon an den Universitäten darin bestand, die Gewerkschaftsstatuten auswendig zu beherrschen. Das Wort der Führung ist das letzte Wort, Flügelkämpfe gibt es nur hinter verschlossenen Türen. Sie wollen an die Macht, und sie wollen da bleiben.
Ganz gegenteilig ist die Entwicklung bei den Konservativen. Schon immer war diese Partei, wie der gesamte britische Staat, ein lockerer Verein von Gentlemen ohne festgelegte Struktur, ohne landesweite Mitgliedschaft oder gar gewählte Führung. Nachdem die Partei in den euphorischen Thatcher-Jahren ganz ohne Fußvolk auskamen, hat nun die Ära Major die alt gewordene Organisation völlig zerbröseln lassen. 200 konservative Kandidaten laufen mit einem Wahlprogramm herum, das in Sachen Europa der Parteilinie widerspricht; die Ortsvereine wählen ins Zwielicht geratene Politiker nach Gutdünken ab oder eben auch nicht, und John Major ist auch noch stolz darauf, daß er zu alldem nichts zu sagen hat. Die nach der Anzahl der Regierungsjahre erfolgreichste politische Partei Europas des Jahrhunderts mit Ausnahme der sowjetischen Kommunisten hat ihre Existenz vorläufig suspendiert und wartet auf die Niederlage.
Aber auch bei den Tories steht eine junge Generation in den Startlöchern, die mit Majors Laisser- faire wenig anfangen kann. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Nationalstaates stehend, lehnen sie die europäische Integration ab und sehen Großbritannien als eine Art Hongkong gegenüber dem EU-Kontinent, der damit implizit dasteht wie die Volksrepublik China. Sie wünschen sich Dynamik und Moral zugleich und werden damit ihren Gegenstücken auf der anderen Seite des Unterhauses, der jungen Frischlingsgeneration von Blair-Verehrern, zum Verwechseln ähnlich sehen. Der Fernsehautor Harry Enfield nannte sie kürzlich „jung und makellos, mit vorhersehbar langweiligen Vergangenheiten“.
Die neue Generation der Moralisten befindet sich auf dem Triumphzug. Ein politischer Konsens macht sich breit, dessen Vernunft aalglatt daherkommt und Widersprüche kaum noch zuläßt. Keines der absehbaren möglichen Wahlergebnisse wird das noch grundlegend ändern.
Dies ist der Beginn einer dreiteiligen Serie. Sie wird mit einem Artikel über die britische Wirtschaftspolitik fortgesetzt.
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