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Montagsinterview mit Jörg Passoth"Damals eine hochbrisante Sache"

Jörg Passoth gehörte zu den ersten Pfarrern, die Anfang der 80er-Jahre Kirchenasyl in Berlin gewährten. Eine Lebensaufgabe sei das, sagt der Protestant, der inzwischen im Ruhestand ist.

Pfarrer Jörg Passoth kümmert sich seit Jahrzehnten um Flüchtlinge Bild: Julia Baier
Konrad Litschko
Interview von Konrad Litschko

taz: Herr Passoth, sind Sie ein Gesetzesbrecher?

Jörg Passoth: Nein, ganz im Gegenteil.

Jörg Passoth

Jörg Passoth wurde 1943 in Berlin geboren. Er studierte evangelische Theologie und trat 1982 sein erstes Pfarramt in der evangelischen Johannesgemeinde in Lichterfelde an. 1985 gewährte Passoth sein erstes Kirchenasyl in seiner Gemeinde, 17 weitere waren es bis heute. Passoth zählt zu den Mitbegründern des Vereins "Asyl in der Kirche". Heute versammeln sich in dem Verein 73 Kirchengemeinden und 66 Einzelpersonen.

Seit Jahren ist Passoth der zentrale Organisator von Kirchenasylen in Berlin, verteilt abschiebebedrohte Flüchtlinge auf Kirchengemeinden und betreut diese, bis eine Einigung mit der Innenverwaltung erreicht ist. Passoth ist auch Vorsitzender von Xenion, einer psychotherapeutischen Beratungsstelle für traumatisierte Flüchtlinge. Zuletzt wirkte Passoth in der Kirchengemeinde Dahlem. Seit 2002 ist der 66-jährige Pfarrer im Ruhestand - engagiert sich aber weiter für Flüchtlinge. Er wohnt in Dahlem. Seine Frau ist Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.

Mehr Infos im Internet: www.kirchenasyl-berlin.de

Seit über 20 Jahren gewähren Sie Kirchenasyle in Berlin, organisieren und begleiten fast jede dieser Aktionen im Hintergrund. Kirchenasyle sind allerdings im deutschen Gesetzbuch nicht vorgesehen.

Das wird uns jedes Mal vorgehalten, wann immer wir ein Kirchenasyl beginnen. Dabei bewegen wir uns keineswegs in einem rechtsfreien Raum. Wir nehmen Flüchtlinge auf, von denen wir überzeugt sind, dass sie nicht abgeschoben werden dürfen. Und zwar deshalb, weil gewichtige Aspekte in ihren Fluchtgeschichten nicht berücksichtigt wurden oder neu aufgetaucht sind. Diese neuen Punkte tragen wir den Behörden vor, um das Verfahren neu aufzurollen.

Trotzdem setzen Sie sich über staatliches Handeln hinweg, wenn Sie Abschiebungen verhindern, indem Sie Menschen in Ihrer Kirche verstecken. Der frühere Berliner Innensenator Heinrich Lummer bezeichnete Sie einmal als "Verkenner unseres demokratisch verfassten Rechtstaates".

Es entspricht sicher nicht der Mehrheitsmeinung, was wir tun. Aber ich bin davon überzeugt, dass unser Staatsgefüge von diesem Engagement nur profitieren kann. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die ungefragt und wirkungsvoll helfen, wenn Menschen in Not sind. Mit dem Kirchenasyl suchen wir nach humanitären Lösungen, auch dort, wo es keine zu geben scheint. Dabei zielen wir immer auf den Konsens mit den zuständigen Behörden. Und der Erfolg gibt uns recht. Nicht nur wurde in Berlin noch nie jemand aus dem Kirchenasyl abgeschoben - die meisten von ihnen leben heute mit dauerhaftem Bleiberecht im Land.

Dennoch: Steht die Kirche im Zweifel über Gesetz und Staat?

Noch mal: nein. Natürlich haften wir für das, was wir tun. Und wenn wir uns strafbar machen, leisten wir ohne Lamento unsere Strafe. Aber die christliche Kirche ist aus ihrer biblischen Tradition im Besonderen verpflichtet, das Wohlergehen von Fremden zu achten. Nimmt man die Bibel strikt, geht es in erster Linie nicht darum, Gesetzen zu genügen, sondern das Herz und die Not des anderen zu verstehen.

Klingt nach einer Selbstverständlichkeit.

Ja. Und es könnte ja auch jede Universität und jeder Supermarkt Flüchtlingen Obdach bieten, wenn sie es wollten.

Wie läuft ein Kirchenasyl heute klassisch ab?

Wenn wir überzeugt sind, dass eine Person aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden darf und es keinen anderen Weg gibt, wird der Flüchtling in einer Gemeinde untergebracht. Dann informieren wir ganz offiziell die Innenverwaltung, dass diese Person dort aufgenommen ist. Das läuft fast immer geräuschlos, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt. Und parallel wird recherchiert.

Recherchiert?

Unser Ziel ist es, neue Gründe zu finden, die der anderen Seite erlauben, eine Abschiebung abzusagen. Es gibt immer eine Gruppe von Gemeindemitgliedern, die während des Kirchenasyls über das Herkunftsland recherchieren, mit Leuten telefonieren, Atteste einholen. Und wenn Sie mit Flüchtlingen im gleichen Haus leben, hören Sie am Küchentisch Dinge, die in keiner Anhörung erwähnt wurden.

Unterstellen Sie den Behörden, dass diese nicht gründlich genug Asylfälle bearbeiten?

Nein. Aber sagen wir es mal so: Die Behörden stützen sich oft nur auf die Aussagen des Auswärtigen Amtes und haben nicht die Möglichkeiten, die wir als Kirche haben. Über unsere Partnergemeinden im Ausland, über unsere Zusammenarbeit mit Menschrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Terre des Hommes besitzen wir oft ein Detailwissen über die Heimat der Flüchtlinge, von denen manchmal das Leben der Leute abhängt. Und wir haben die Zeit, das zusammenzusammeln.

Zeit? Als sich im März ein 26-jähriger Tschetschene im Kirchenasyl in der Friedrichshainer Samariter-Gemeinde befand, kam die Polizei fast täglich, um ihn abzuholen.

Das war eine Ausnahme und erinnerte tatsächlich an die alten Zeiten des Kirchenasyls. Damals in den Anfangsjahren war das noch eine hochbrisante Sache. Wir wussten nicht, wie wir uns verhalten können und unser Gegenüber, die Polizei und Behörden, auch nicht. Heute ist in die Abläufe aber eine gewisse Routine und Sicherheit gekommen.

Inwiefern?

Wir müssen nicht mehr jede Nacht wach bleiben, aus Angst, dass die Polizei kommt. Es gibt inzwischen einen Konsens zwischen uns und den Behörden, Konfrontationen möglichst zu vermeiden und respektvoll miteinander umzugehen. Das ist auch ein Verdienst, dass wir über 20 Jahre lang dafür gesorgt haben, dass unser Gegenüber stets das Gesicht wahren konnte.

Wie viele Kirchenasyle laufen denn momentan in Berlin?

Augenblicklich keines. Wir haben in diesem Jahr aber bereits drei Kirchenasyle erfolgreich abgeschlossen. Das waren alles Tschetschenen: eine acht- und eine siebenköpfige Familie im Paul-Gerhardt-Stift und der 26-Jährige in der Samariter-Gemeinde. Daneben nehmen wir aber auch Flüchtlinge auf, denen keine Abschiebung droht, aber eine Bleibe fehlt. In meiner früheren Gemeinde in Dahlem lebt zum Beispiel gerade eine Kenianerin ohne Papiere, die im Krankenhaus Zwillinge geboren hat.

Die 36 Exil-Iraner, die sich im August im Hungerstreik in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche befanden, zählen Sie nicht als Kirchenasyl?

Meines Wissens war keiner der dort Anwesenden von Abschiebung bedroht. Es handelte sich vielmehr um eine Solidaritätsaktion mit notleidenden Menschen in einem irakischen Flüchtlingslager. Auch dafür öffnen wir gelegentlich unsere Türen. Entscheidend ist nur, ob Menschen in besonderer Not sind. Das gilt übrigens auch für Deutsche.

Sie hatten schon mal einen Deutschen im Kirchenasyl?

Ja, das ist zwar schon lange her, war aber das absolut gleiche Verfahren. Der Mann war aus Süddeutschland aus der Psychiatrie verschwunden und stand eines Morgens vor meinem Pfarrhaus. Ich hab ihn aufgenommen und geguckt: Was sind seine Ängste? Dann haben wir mit den betroffenen Einrichtungen und Gerichten in Bayern vereinbart, dass der Mann seine Therapien freiwillig machen kann, und er ist wieder mit dem Zug runtergefahren.

1983 gab es das erste Kirchenasyl in Berlin. Können Sie sagen, wie viele seitdem absolviert wurden?

Schwierig zu sagen. Da hat ja am Anfang keiner mitgezählt. 200, würde ich grob schätzen. Davon dürften über 1.000 Flüchtlinge profitiert haben.

Wie viele Berliner Kirchen sind denn überhaupt bereit, Asyl zu gewähren?

Momentan sind es 12 Gemeinden plus zwei diakonische Einrichtungen. In den Anfangsjahren hatten wir mal bis zu 50 Gemeinden. Aber diese Fülle brauchen wir heute nicht mehr.

Warum nicht?

Das hat im Wesentlichen mit der Härtefallkommission zu tun. Berlin hat die höchste Anerkennungsquote von Härtefällen. In der Kommission sitzen Leute, mit denen wir seit Jahren gut zusammenarbeiten. Dafür dauern die Kirchenasyle, die es heute gibt, länger als früher. Das kann sich schon mal drei Jahre hinziehen.

Warum so lange?

Viele Flüchtlinge haben über Jahre Gewalt erfahren, sind misshandelt worden. Sprechen können sie darüber oft nur, wenn sie Vertrauen zu einem Menschen gefasst haben. Das braucht Zeit. Vielfach sind die Betreffenden auch so krank, dass mit den Behörden immer wieder um Reise- und Transportfähigkeit gestritten werden muss. Das war etwa im Fall des 26-jährigen Tschetschenen in der Samariter-Gemeinde so. Der Mann war durch Folterungen traumatisiert, litt unter Nierenschmerzen, Magengeschwüren und inneren Blutungen. Dazu kam die Gefahr, die ihm als Sohn eines ermordeten Rebellen bei einer Abschiebung nach Tschetschenen gedroht hätte. Davon konnten wir den Innensenator nach zähem Ringen letztlich überzeugen.

Wie finanzieren Sie eigentlich Ihre Kirchenasyle?

Durch Betteln: Spenden und Kollekten.

Am Jahresende könnte es wieder mehr Arbeit für Sie geben - die Bleiberechtsregelung läuft aus. Dann müssen langjährig geduldete Flüchtlinge einen Arbeitsplatz nachweisen, um hierbleiben zu dürfen.

Eine Absurdität. Jetzt in der Krise ist die Arbeitsplatzsuche doch selbst für Deutsche ein Kunststück. Es muss definitiv eine Verlängerung der Frist für Härtefälle geben. Ansonsten wird das für viele Flüchtlinge verheerende Folgen haben.

Wären die Berliner Kirchen für eine neue Welle an Kirchenasylen gewappnet?

Wir sind gewappnet wie immer. Aber wir können keine verfehlte Flüchtlingspolitik ausbaden. Ein Kirchenasyl bleibt immer ein symbolisches Zeichen.

Sie gehörten bereits 1985 zu den Mitbegründern des Vereins "Asyl in der Kirche". Warum fesselt Sie dieses Thema?

Schlüsselerlebnis war die Silvesternacht 1983. Damals verbrannten im Abschiebegewahrsam am Augusta-Platz in Lichterfelde sechs Flüchtlinge, die aus Protest ihre Matratzen angezündet hatten. Im Einzugsgebiet meiner Gemeinde! Und ich hatte keine Ahnung, was da los war. Noch in der Neujahrssitzung des Gemeindekirchenrates bat ich darum, mich für ein dreiviertel Jahr freizustellen, um mir Klarheit verschaffen zu können, wie es um Flüchtlinge in dieser Stadt steht. Das wurde mir erlaubt.

Und wie stand es um die Flüchtlinge?

Grauenhaft. Die Unterbringungen, der Umgang mit diesen Menschen, das war mafiös. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Die Flüchtlinge wurden in den Heimen sich selbst überlassen. Es gab Schikanen. Um Marken bei der Ausländerbehörde zu bekommen, mussten sich die Asylbewerber um 3 Uhr nachts vor die Tür stellen, damit sie um 8 Uhr drankommen. Auch im Winter. Da sind wir hin und haben denen Suppe und Kaffee gebracht.

War das alles, was Sie tun konnten?

Wir haben auch politischen Druck aufgebaut, haben das Gesundheitsamt in die Heime geschickt. Da wurde damals zum Teil richtig im Dreck gewühlt.

Was hat sich heute gebessert?

Es gibt inzwischen ein politisches Bewusstsein für die Probleme von Flüchtlingen in dieser Stadt. Es gibt Netzwerke und flankierende Maßnahmen, wie einen Gesundheitsschutz auch für Menschen ohne Papiere. Nichtsdestotrotz tut die Innenverwaltung im Einzelnen immer noch haarsträubende Dinge, wenn sie etwa Tschetschenen nach Polen abschiebt, wo diese nicht vor Übergriffen geschützt sind. Und es gibt immer noch Institutionen wie das Abschiebegefängnis in Grünau, in dem Menschen nur deshalb sitzen, weil sie die falschen Papiere haben. Insgesamt ist es aber seit der Einführung der Härtefallkommission Anfang der Neunziger deutlich besser geworden.

Auch ein Verdienst Ihrer Bewegung?

Sicher auch. Genauso wie der vielen anderen Gruppen, die sich um Flüchtlinge bemüht haben. Mit der Härtefallkommission wurde letztlich auch institutionell anerkannt, dass alle gesetzlichen Regelungen nicht ausreichen, um im Einzelfall humanitäre Härten zu beachten.

Blieb bei Ihrem ganzen Aktionismus eigentlich noch Zeit für Familie und Gemeindearbeit?

Jetzt bin ich ja im Ruhestand. Aber keine Frage, das waren anstrengende Jahre für alle Beteiligten. Da kamen schon Gemeindemitglieder, die wollten, dass ich endlich mal wieder das tue, was andere Pfarrer machen. Richtige Schwierigkeiten hatte ich aber nie. Im Gegenteil haben sich meine Gemeinden immer stark mitengagiert. Die Konfirmanden haben den Flüchtlingen Deutschunterricht erteilt, die Älteren Feste und Flüchtlingscafés organisiert.

Der Einsatz für Fremde - war das auch Teil Ihrer Berufung zum Pfarrer?

Ich bin überzeugt, dass man vor der Not von Menschen nicht die Augen verschließen darf. Und würde ich nicht nach meinen Kräften Lösungen dafür suchen, würde das auch meinen Glauben infrage stellen. Zudem habe ich als Kleinkind die Nachwehen des Krieges und Nationalsozialismus erlebt. Auch das hat mich für meine späteren Aufgaben geprägt.

Haben Sie irgendwann gedacht: Jetzt ist genug mit den Kirchenasylen, ich habe meinen Teil getan, ich höre auf?

(überlegt) Eigentlich nein. Es ist dieser Moment am Ende jedes Kirchenasyls, der einen immer weitermachen lässt. Dann wenn ich sagen kann: Hier ist das Schreiben von der Ausländerbehörde, du kannst bleiben. Dieser Moment, der Blick des anderen, der endlich aufatmen kann - das ist bis heute ein Geschenk.

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