Montagsinterview mit Henry Voss: "Zelebrieren ist nicht mehr so"
In der DDR tauschte Henry Voss illegal Schallplatten. Nach der Wende eröffnete er einen Plattenladen in Prenzlauer Berg. Zuhause hört er kaum noch Musik.
taz: Herr Voss, haben Sie einen MP3-Player?
Henry Voss: Ja. Wieso?
Sie verkaufen seit 20 Jahren vor allem Vinylscheiben. Die gelten als authentisch. MP3 sind seelenlose Dateien. Das Gefühl für das Besondere geht verloren.
Finde ich auch. Das ist völlig beliebig. Ich kenne Leute, die haben ne Festplatte mit 500 Gigabyte Musik. Die werden nie gehört. Völlig wertlos, das Medium.
Der Mann: Henry Voss, 45, lebt seit 1991 in Berlin. Geboren in Greifswald und aufgewachsen in Torgelow, geht er zum Studium der Kulturwissenschaften nach Meißen. In Prenzlauer Berg, wo er seine erste Berliner Wohnung findet, lebt er immer noch, inzwischen mit seiner Freundin und der gemeinsamen Tochter.
Die Platten: Voss sammelt schon zu DDR-Zeiten West-Schallplatten und Lizenzpressungen des DDR-Labels Amiga. Weil Voss sich keine Chancen auf seinen Traumjob Radio-Musikjournalist ausrechnet, eröffnet er nach der Wende mit einem Freund den Laden Vopo Records. Der Name verweist nicht auf die Volkspolizei, sondern setzt sich aus den Namen der damaligen Geschäftspartner zusammen. Vinyl-Alben sind bis heute Voss Spezialität.
Der Aufleger: Als "DJ Vossi" versorgt Voss Clubs wie Lido, Dazzle oder Magnet, aber auch Privatpartys mit Musik - "vorrangig Gitarrenmusik, von Indie bis Punk", wie er selber sagt. (tla)
Was genau ist das Besondere am "schwarzen Gold" Vinyl?
Das Cover, das Artwork, der Sound, der wärmer klingt. Wenn du damit nicht schändlich umgehst, kannste die Platten noch in 50 Jahren anhören. Du kannst dir eine Plattensammlung als Wertanlage hinstellen. Und natürlich dieses Zelebrieren, wenn man sie zu Hause auflegt.
Vor 20 Jahren waren Platten günstiger als CDs. Heute liegt eine Neuerscheinung auf LP gerne zehn Euro über der CD.
Die Majors Sony, Warner, Universal haben Ende der 90er versucht, die Platte totzumachen, und die Preise erhöht. Früher wurden von neuen Platten 250.000 durchgeschoben, heute machen sie noch 2.000 oder 3.000. Du musst schon Vinylfan sein, wenn du das mitmachst.
Ihr Laden war von Beginn an auch Anlaufstelle für Punks. Ist eine Platte jenseits der 20-Euro-Marke noch Punk?
Nee, aber die Punkplatten sind ja heute noch nicht teuer. Die kosten zwischen 11 und 13 Euro, damals waren es 20 Mark. Eigentlich haben die kleinen deutschen Punklabels nur die Inflation eingerechnet, die steigenden Kosten im Presswerk und so. Einige Labels wollen die Preise moderat halten und überlegen, ob sie Vinyl überhaupt weitermachen. Die sagen: Ich will im Verkaufspreis nicht übern Zehner gehen.
Eigentlich wollten Sie zum Radio. Stattdessen machten Sie sich 1991 mit Vopo Records selbstständig. Wie kam es dazu?
Ich hab zwei Praktika gemacht, eins im Tonstudio einer Jugendeinrichtung im Märkischen Viertel und eins bei DT64, dem DDR-Jugendsender. Aber der wurde ja dann dichtgemacht, die haben keinen mehr eingestellt. Ich hatte nicht die Traute oder bin gar nicht auf die Idee gekommen, mich im Westen zu bewerben, beim SFB oder so. Große Plattenfirmen gabs damals in Berlin nicht, und die kleinen hatten ihre Leute. Also: Machste n Plattenladen. War zu der Zeit nicht die falscheste Entscheidung.
Aber Ahnung vom Geschäft hatten Sie nicht.
Ich musste mich reinfummeln. Ich bin rumgerannt und hab mich in anderen Läden informiert, wie man wo was bestellt, wie die Spanne ist und die Bezahlung. Ich war so blauäugig, dachte so: Na ja, schicken die Labels erst mal und wenn dus verkauft, bezahlste. Ist natürlich Quatsch, du musst das Zeug innerhalb von zwei Wochen bezahlen, und dann ist es deins. Dann musste sehn, wie du klarkommst.
Und zu DDR-Zeiten waren Sie hinter jeder Amiga-Platte her?
Klar. Die Lizenzsachen konntest du nicht jederzeit überall kaufen. Alle zwei Wochen kam eine raus, immer Donnerstag, da standen die Leute früh um sechs vor der Tür und haben drei Stunden gewartet. Die 25 Dinger, die die gekriegt haben, waren sofort weg. Ich hatte Glück, bei mir im Haus wohnte die Chefin vom Plattenladen. Die hat mir immer eine mitgebracht. Ich hab da aber schon mit Westplatten hantiert.
Wie kamen Sie an die ran?
Es gab Tauschringe, ausgehend von Leuten aus Leipzig oder Berlin, die Kontakte hatten und das massenweise gekauft haben. In der Disco hat man mitgekriegt: Wer hat so was, wer macht so was. Die Sachen wurden dann rumgegeben zum Überspielen. Da hab ich mir ne Clash gekauft, Fehlfarben und die Dead Kennedys.
Musik vom Klassenfeind!
Das war illegal, da waren sie richtig hinterher. Das lief unter Devisenschmuggel. Dabei hattest du nie was mit Devisen zu tun. Du hast in Ost bezahlt, 120 ne Platte und Doppelalbum 240 Ostmark. Das war ein heißes Ding. Ich hab einige Bekannte, die richtig im Knast gesessen haben deswegen.
Sie sind aus Mecklenburg-Vorpommern und haben in Meißen studiert. Seit wann sind Sie in Berlin?
Im Sommer 89, mit der Ausreisewelle über Ungarn und Tschechien, war zum ersten Mal die Chance da, hier ne Wohnung zu kriegen. Man musste gucken, wo es immer dunkel ist. Irgendwann machtest du die Wohnung auf, hast reingekuckt, war leer, und dann hast du nach der Wende auf dem Amt gesagt, dass du da sozusagen illegal wohnst. Dann haben die nachgekuckt: Ja, die haben vier Monate nicht bezahlt, könnse übernehmen.
Wo haben Sie damals gewohnt?
Lychener Straße, das ist hier mein Kiez. Ich wohn heute noch in der Lychener und kuck in mein altes Fenster rein. Den Laden hab ich auch in der Lychener aufgemacht. 96 bin ich hier in die Danziger gezogen.
Wie würden Sie die Atmosphäre beschreiben, die hier im Kiez Anfang der 90er herrschte?
Das war Aufbruchstimmung. Hier war alles besetzt. Es war alles so Grauzone, man konnte im Prinzip machen, was man wollte. Es kamen viele aus dem Ausland, die das alles total spannend fanden. Alles abrissmäßig Grau in Grau, null Komfort, aber war ein buntes Völkchen hier: Künstler, viele Arbeitslose, dann fing es an mit Studenten. Kneipen waren nachts immer voll, immer Party, alles schön.
Und der Laden mittendrin.
Der war Rückzugsgebiet. Es kamen viele Punks und Glatzen, die korrekten natürlich. Dann gings los, dass man ein bisschen Bier verkauft hat. Dann wurde die Idee geboren, den Laden als Label zu nehmen und eine eigene Platte zu machen. Es kamen ein Longplayer und zwei Singles, auf der LP waren Kiezgesöx, ne Berliner Punk- und Oi-Band, und Shock Troops.
Aber Sie haben Vopo Records nicht auf Punk spezialisiert.
Ich hab ne ziemliche Bandbreite bei Musik. Ich hab nicht gesagt, ich mach einen Punk- oder Hardcore-Laden, ich hatte auch viel Indie und HipHop.
Was sagte denn die Bank, als Sie einen Kredit für die Eröffnung eines Plattenladens wollten?
Die wollten mir keinen Unternehmenskredit geben, ich hatte ja keine Sicherheiten. Ich hab einen Privatkredit aufgenommen, 20.000 oder 30.000 Mark. Nicht die Welt, hab trotzdem ewig abbezahlt. Was übrig blieb, hab ich in den Laden gesteckt, der wuchs auch ziemlich schnell.
Gab es Momente, in denen es knapp wurde mit dem Laden?
An Dichtmachen hab ich eigentlich nie gedacht, aber knapp war es anfangs eigentlich immer. Du hast immer nur bezahlt, Finanzamt kam, wollte Nachzahlungen haben, weil man das erst nicht so ernst genommen und die Termine nicht eingehalten hatte, da haben die irgendwas geschätzt, was völlig utopisch war.
Der Kiez hier hat sich in den vergangenen 20 Jahren enorm gewandelt. Wie finden Sies?
Es ging 96 los, dass Stammleute weggezogen sind, weil Häuser saniert wurden und die Leute die hohen Mieten nicht mehr zahlen konnten. Was sich im Prinzip durchgesetzt hat. Ich bin mitgewachsen. Viele, die weggezogen sind, regen sich über alles auf. So gehts mir eigentlich nicht. Viele Sachen gefallen mir nicht, aber ich habe hier noch viele Freunde. Hier kennste alle Ladeninhaber.
Und die Kundschaft?
Eine Menge Stammkunden sind weggezogen. Vieles kriegste auch woanders, die halbe Stunde hierher fällt dann vielen schwer. Andersrum sind durch die neuen Bewohner auch Käufer dazugekommen. Ich hab ja viel Indie hier oder die neue Tom Waits. Das sind natürlich Käuferschichten, die so etwas suchen und etwas mehr Geld haben.
Sind denn die vielen Touristen gut fürs Geschäft?
Ja, das ist der Vorteil der langen Dauer, die der Laden jetzt hat: Über die 20 Jahre kamen so viele Leute hierher, die Mundpropaganda gemacht haben, wenn sie zurückfahren nach Barcelona oder so. Die markieren es dann im Stadtplan für die Freunde, die nächstes Jahr kommen.
Suchen Touristen andere Titel als Stammkunden?
Es gibt witzigerweise zwei Klientelen. Eben hat einer nach deutscher 60ies-Surfmucke gefragt. Die wollen explizit was aus dieser Stadt oder diesem Land. Dann gibt es auch viele, wo ich mich wundere: Die kaufen Mucke aus ihrem Land. Wenn Finnen kommen, kaufen die finnischen Hardcore.
Sie sprachen vom Bier, das Sie früher verkauft haben. Jetzt steht hier eine Kaffeemaschine.
Ich hab immer noch Bier. Ich hab alles, wozu man keine Extragenehmigung braucht. Wer hier n Kaffee trinken möchte, kann den gerne haben. Ich habs eigentlich gemacht, weil ich auch viele Pärchen habe. Gerade wenn Touristen reinkommen: Er möchte n paar Platten kieken und die Frau sitzt im Stuhl und langweilt sich.
Sind denn die Verkäufe über all die Jahre konstant geblieben?
Insgesamt ist es natürlich weniger geworden, die Plattenindustrie schwächelt. Man könnte es nur vergleichen, wenn es das Internet nicht gäbe. Die Leute kommen eindeutig wegen Vinyl zu mir, da hab ich viele Importe und Sachen, die du nicht überall kriegst. Der CD geb ich nicht mehr lange. Wenn du für die CD 16 Euro bezahlst und MP3-Alben für 6 verscherbelt werden, ist die Spanne nicht gerechtfertigt.
Welche Spanne haben Sie denn beim CD-Verkauf?
Eine neu erscheinende CD kostet 11,50 bis 13,50 Euro im Einkauf - netto plus Mehrwertsteuer. ne Beatsteaks als Beispiel kostet mich 15,50. Die verkaufste für 16,99, haste 1,50 dran, davon musste die Mehrwert abziehen, also n Euro. Früher hat sich das über die Masse gerechnet, aber heute verkaufste sechs Stück.
Also macht die Preispolitik der Firmen vor allem den kleinen Läden zu schaffen?
Ja, gerade bei Chartware, wo sich Saturn und Media Markt drauf stürzen. Die verkaufen sie als Angebot unter Einkauf und locken die Leute damit. Ihr Geld machen die mit Kühlschränken oder Fernsehern. Wer eine neue CD da für n Zehner bekommt, warum soll der die hier kaufen?
Würden Sie das hier trotzdem als Traumberuf bezeichnen?
Prinzipiell gibt es immer ein paar Sachen als Selbstständiger: dass man nie ein festes Einkommen hat. Dass die Freizeit eng begrenzt ist, wenn man den Laden mit der Freundin macht. Wir stehen hier bis Sonnabendabend und der einzige freie Tag ist Sonntag. Wir haben nie mal eine Woche zusammen Urlaub.
Eine Aushilfe haben Sie nicht?
Nur einen Kumpel, der einen Job hat und deshalb höchstens mal auf n Sonnabend hier steht. Jahresurlaub ist dann mal so verlängertes Wochenende von Freitag bis Dienstag. Das ist ein Riesennachteil mit Kind. Andererseits ist man flexibel und kann sagen: Heute Abend leg ich auf, mach du mal morgen den Laden auf.
Als DJ Vossi legen Sie im Lido und anderswo auf. Zur Querfinanzierung des Ladens?
Das geht aufs Ladenkonto. Ich leg etwa einmal die Woche auf, vorrangig Gitarrenmusik, von Indie bis Punk, im Lido, Magnet, White Trash, K17 oder auf Privatpartys.
Früher galt Plattenauflegen nur als echt, wenn es Vinyl war.
Ich leg CDs auf, schon seit 95. Du konntest Maxis und Singles zusammenfassen auf eine und hast viel Platz gespart. Ich bin kein Special DJ, der sein Zwei-Stunden-Set abspielt und 50 Platten einpackt. Ich bestreite sieben, acht Stunden, da ist für mich Platz und Schlepperei wichtig. Das geht anders gar nicht.
Heute wird oft mit digitalen Systemen wie Final Scratch aufgelegt, also ohne herkömmliche Platten. Kommen deshalb weniger DJs in Ihren Laden?
Ja, würde ich schon sagen. Im Rockbereich kommen sie eigentlich noch, aber Vinyl-HipHop ist komplett weggebrochen.
Haben Sie eine bestimmte Platte, die Sie sonntags zelebrieren: aus dem Regal ziehen, abwischen, die Nadel auflegen?
Nee. Ich hab natürlich eine Lieblingsplatte - Clash, "London Calling". Aber es ist nicht so, dass ich die am Sonntag rausziehe. Ich höre hier sechs Tage die Woche acht Stunden Musik, mit dem Zelebrieren zu Hause ist es nicht mehr so. Ist schade, aber auch verständlich.
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