Montagsinterview: Wildwasser: "Es wird nie so sein, als wäre mir das nie passiert"
Martina Hävernick hilft bei "Wildwasser" Frauen und Mädchen, die sexuell missbraucht worden sind. Sie selbst war eine der ersten Nutzerinnen des Vereins, der vor 25 Jahren in Berlin gegründet wurde.
Die 46-Jährige nutzte den Aufbruch der Frauenbewegung in den 80er-Jahren, als Gewalt gegen Frauen erstmals öffentlich thematisiert wurde. Die Aktivistinnen gründeten Frauenhäuser und Notrufe für Vergewaltigte sowie die ersten Selbsthilfegruppen für Frauen, die als Mädchen sexuell missbraucht wurden. Diese nannten sie "Wildwasser". Hävernick hat die Aufarbeitung ihres Missbrauchs in einer solchen Gruppe als persönliche Befreiung empfunden.
Heute erhalten erwachsene Frauen, die als Mädchen sexuelle Gewalt erlebt haben, in der Wildwasser-Frauenselbsthilfe Unterstützung. Die Wildwasser-Mädchenberatungen bieten betroffenen Mädchen und unterstützenden Erwachsenen Hilfe und Beratung. Zudem hat der Verein den Mädchennotdienst und "DonyA", eine interkulturelle Wohngruppe für Mädchen, aufgebaut. Das Frauennachtcafé für Frauen in Krisensituationen hat bisher nur von Samstag auf Sonntag geöffnet.
Die Arbeit von Wildwasser Berlin ist zertifiziert und hat für alle Bereiche das Paritätische Qualitätstestat des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Durch die finanziellen Kürzungen wurde die Arbeit von Wildwasser sehr stark in den Bereich der Sozialarbeit gedrängt. Eigentlich versteht Wildwasser seine Arbeit jedoch auch politisch. Es geht darum, ungerechte Machtstrukturen in der Gesellschaft deutlich zu machen und zu verändern.
Am Freitag begeht Wildwasser sein 25-jähriges Jubiläum mit einer Fachtagung und einem Fest in der Werkstatt der Kulturen. Infos unter www.wildwasser-berlin.de
taz: Frau Hävernick, Wildwasser, eine Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen, feiert am kommenden Wochenende ihr 25-jähriges Jubiläum. Sie haben als Kind sexuellen Missbrauch erlebt und Sie arbeiten bei Wildwasser mit Frauen, denen es ebenso geht. Ist es für Sie ein Lebensthema, an dem Sie schwer tragen?
Martina Hävernick: Nein, seit ich mich mit der erlebten Gewalt auseinander setze, nicht mehr. Es gibt ja zwei Wege mit solchen Erfahrungen umzugehen. Man kann sich an der Vergangenheit orientieren. Da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man nicht aus dem Teufelskreis von Wut, Schmerz, Scham und Schuld raus kommt, weil die Verletzungen groß sind. Oder man orientiert sich am Heute und an der Zukunft. Da kann ich mich als diejenige erleben, die handelt. Als diejenige, die versucht, positive Kraft aus den negativen Erfahrungen zu ziehen.
Das klingt, als redeten Sie die Missbrauchserfahrung schön.
Mich hat die Auseinandersetzung mit dem Missbrauch freier gemacht. Erst dadurch konnte ich herausfinden, was ich will. Und ich sehe das auch in der Arbeit mit betroffenen Frauen. Wenn sie zu Wildwasser in die Beratung kommen und bereit sind, sich mit dem Missbrauch auseinander zu setzen, dann wird die Geschichte, an der sie tragen, leichter.
Sind Missbrauchte also nicht ihr Leben lang mit dem Missbrauch beschäftigt, wie gemeinhin gesagt wird?
Natürlich verschwinden die Erfahrungen nicht und es wird nie so sein, als wäre mir das nie passiert. Das geht nicht. Aber man findet Wege, anders damit umzugehen.
Wenn man mit Betroffenen über sexuellen Missbrauch redet, stellt sich sehr schnell eine peinliche Berührung ein. Wie kommt das?
Das wüsste ich auch gern. Ich vermute, es hat mit den Bildern zu tun, die diejenigen, die mit uns reden, von sexuellem Missbrauch im Kopf haben. Die Medien funktionalisieren das Thema ja sehr stark und platzieren Missbrauch in einem sexualisierten Kontext. Denn Sex ist interessant, Gewalt ist interessant und die Kombination von beidem erst recht. Mit den realen Erfahrungen hat das nichts zu tun.
Was sind Ihre realen Erfahrungen? Wer hat Sie missbraucht? Wie lange? Fühlten Sie sich schuldig?
Das sind so tief gehende Fragen.
Was bedeutet es, wenn das Leben eines Kindes sexualisiert wird?
Dass ein Kind sich schuldig fühlt, ist doch klar. Es passiert etwas mit ihm, was es nicht will. Da der Missbrauch, wie bei mir, meist in der Familie geschieht, sind die, die es tun, ja diejenigen, auf die das Kind emotional angewiesen ist. Ein völliges Gefühlsdurcheinander entsteht. Also dreht das Kind die Situation um und sucht die Schuld bei sich. Dieses Modell findet sich auch in anderen Konstellationen. Wenn sich Eltern etwa streiten, fühlen sich Kinder oft verantwortlich dafür.
Hatten Sie das Gefühl, Sie sind die Einzige auf der ganzen Welt, der so was passiert?
Nein, ich dachte: Das machen alle Väter so mit ihren Kindern.
Dachten Sie, dass Sie den Missbrauch ausgelöst haben?
Ganz klar ja. Da war das Gefühl, ich bin falsch, es muss an mir liegen. Als Jugendliche konnte ich das dann zwar anders einordnen. Das Gefühl, dass ich es ausgelöst habe, ist aber geblieben.
Konnten Sie sich jemandem anvertrauen?
Ich habe es mehrfach versucht. Aber da ist nie etwas passiert. Im Gegenteil. Am Ende bescheinigte mir ein Kinderpsychologe vom Jugendamt zu viel Fantasie.
Kinder entwickeln oft Strategien, um sich zu wehren. Wie war es bei Ihnen?
Als Kind habe ich versucht, nicht mit dem Vater alleine zu sein. Als Jugendliche wurde ich konfrontativ. Weißt du eigentlich, dass das verboten ist, habe ich ihn gefragt.
Und welche Antworten haben Sie bekommen?
Er sagte: Diese Gesellschaft ist halt schräg. Eigentlich hat es immer schon sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen gegeben. So etwas ist normal. Er sagte auch: Ich weiß, ich bin zu weit gegangen, das tut mir leid. Da muss man wissen, dass mein Vater auch andere Kinder missbraucht hat, nicht nur mich. Obwohl er gleichzeitig ein ganz normale Sexualität mit Frauen gelebt hat. Ich denke, es hatte nichts mit seiner Sexualität sondern mit seinem Machtbegehren zu tun. Sexueller Missbrauch ist ja ein Machtthema. Die Gesellschaft gibt Erwachsenen Macht über Kinder. Und viel zu lange auch Männern Macht über Frauen. Daraus resultiert Gewalt.
Sie sind vor mehr als 20 Jahren auf Wildwasser gestoßen, einen Verein, der missbrauchte Frauen berät. Sie sagten, das hätte Ihnen das Leben gerettet.
Ja. Dieses Gefühl, in mir ist etwas falsch, hat mein ganzes Leben geprägt. Es ist sehr schwer, die eigene Identität zu entwickeln, wenn immer das Gefühl da ist, ich bin falsch. Erst in der Selbsthilfegruppe hat sich das aufgelöst. Ich bin ganz richtig. Zudem habe ich da gelernt, dass es keine individuelle Geschichte zwischen mir und meinem Vater ist, sondern dass sie eingebettet ist in gesellschaftliche Machtstrukturen.
Sie arbeiten seit 1989 nun auch bei Wildwasser mit. Alle Mitarbeiterinnen, die betroffene Frauen unterstützen, sind wie Sie selbst sexuell missbraucht worden. Warum ist die eigene Missbrauchserfahrung bei der Arbeit so wichtig?
Man muss nicht missbraucht worden sein, um gute Arbeit in diesem Bereich zu machen, aber bei Wildwasser ist es Teil des Konzepts. Wir werden für unsere Klientinnen sichtbar mit den eigenen Erlebnissen. Natürlich werde ich einer Frau in der Beratung nicht meine Geschichte erzählen. Aber durch meine eigene Erfahrung, kann ich Codes und selbst das, was in Sprachlosigkeit versinkt, sehr gut verstehen. Mein Blick ist anders. Vorhin fragten Sie nach dem sexualisierten Kontext, wenn man mit einer missbrauchten Frau spricht. Das ist ein Bild, das - gefördert durch die Medien - von außen auf die Betroffenen projiziert wird. Diesen Blick auf die Frauen habe ich nicht.
Wo fängt Missbrauch an?
Wir hier in der Arbeit sagen, dass Missbrauch weit vor körperlichen Berührungen anfängt. Wir gehen davon aus, dass Missbrauch dann eintritt, wenn sich etwa im Familienkontext Rollen verschieben. Wenn dem Kind die Rolle eines Erwachsenen aufgebürdet wird. Wenn Kinder die Eltern emotional versorgen müssen. Das ist noch kein sexueller sondern emotionaler Missbrauch, aber da wird es schief.
Emotionaler Missbrauch geschieht offenbar oft mit Jungen, die von ihren Müttern als Männerersatz benutzt werden. Etwa wenn die Beziehung nicht mehr funktioniert.
Das gilt für Mädchen genauso. Der emotionale Missbrauch hinterlässt beim Kind genauso traumatische Spuren. Der sexuelle Missbrauch natürlich liegt ganz klar dann vor, wenn ein erwachsener Mensch an einem Kind Handlungen vornimmt, die ihn sexuell erregen.
Wenn ein Kind auf dem Schoß eines Mannes sitzt und merkt, da wird etwas unangenehm unter ihm - ist das sexueller Missbrauch?
Wenn der Erwachsene das Kind nicht ganz schnell vom Schoß nimmt und Verantwortung für die eigene Handlung übernimmt, ja.
Wissenschaftliche Dunkelfeldstudien kommen zu dem Ergebnis, dass etwa jedes siebte Mädchen und jeder zehnte Junge Erfahrungen mit Missbrauch hat. Sind diese Zahlen verbrieft?
Das sind Zahlen, die sich auf juristisch relevanten Missbrauch beziehen. Überlegen Sie mal, wie viele Frauen und auch Männer, die Sie kennen, aller Wahrscheinlichkeit nach sexuellen Missbrauch erlebt haben. Und wie viele sprechen darüber?
In Berlin gründete sich Wildwasser zuerst. Wie war das, als die Frauen damals mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gingen?
Es gab ein großes Treffen, wo viele Frauen das zum ersten Mal aussprachen und ich vermute, dass es eine enorme Erleichterung für die Betroffenen war. Weil der Missbrauch, einmal öffentlich benannt, endlich real war. Für die Gesellschaft war es eher ein Augenöffner und für die Täter vermutlich bedrohlich.
Einerseits hat Wildwasser das Tabu gebrochen, andererseits ist die Gesellschaft heute sehr stark sexualisiert. Sind diese Entwicklung Hand in Hand gegangen? Ist die Sexualisierung eine Gegenreaktion auf den Tabubruch?
Soweit würde ich nicht gehen. Natürlich fehlt heute eine kritische öffentliche Diskussion etwa über nackte Frauen auf Werbeplakaten. Und Vergewaltigungsfantasien in Musiktexten werden ebenso unkritisch hingenommen. Was ich aber viel schwieriger finde: Weil heute sexuelle Gewalt ein Thema ist, das öffentlich verhandelt werden kann, ist die Messlatte der Entrüstung sehr hoch. Es muss spektakulär sein, es müssen massive Geschichten sein, es muss schon Amstetten sein, damit sich Politik und Medien damit beschäftigen. Was alltäglich in den Familien geschieht, der subtile Missbrauch von Macht zwischen Erwachsenen und Kindern, das findet kaum Gehör in der Öffentlichkeit. Und noch etwas kommt verschoben daher.
Was?
Der Blick auf die Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Durch die Medienberichterstattung werden alle als Traumatisierte wahrgenommen. Traumatisierung, im Fachjargon "posttraumatische Belastungsstörung" ist eine psychiatrische Diagnose. Da wird also nicht mehr das Opfer einer Gewalttat gesehen, sondern ein kranker Mensch.
Soll heißen, Sie werden als jemand wahrgenommen, die eine unheimliche Traumatisierung erlebt hat, und nicht als jemand, die Dinge erlebt hat, die Sie nicht gut fanden, denen Sie sich aber gestellt haben.
Genau so. Wer über Gewaltopfer nur als Traumatisierte spricht, wiederholt ein Muster, das eine missbrauchte Person schon beim Missbrauch erlebte. Beim Missbrauch werden dem Mädchen oder Jungen in der Regel seine Gefühle abgesprochen. Du siehst das falsch. Du bildest dir das ein. Du hast zu viel Fantasie. Ähnliches geschieht, wenn man Gewaltopfer ausschließlich als Traumatisierte wahrnimmt. Natürlich hat die Diagnose auch eine positive Seite.
Welche?
Mit ihr wird anerkannt, dass sexuelle Gewalt Folgen hat. Massive Folgen. Aber die Diagnose verwischt, was die Folgen für jede einzelne sind. Kommt noch dazu: Wenn es eine Diagnose gibt, ist es womöglich eine Krankheit, die mit Tabletten geheilt werden kann. Und niemand muss sich mehr damit konfrontieren, dass es um Gewalt geht, dass es einen Täter gibt, oder eine Täterin.
Arbeitet Wildwasser auch mit Tätern?
Nein. Das geht nicht, dass man für beide Seiten gleichzeitig arbeitet und sowohl mit Opfern als auch Tätern loyal ist.
Was wünscht sich Wildwasser zum Jubiläum?
Wir möchten, dass sich der Blick auf das Thema wieder ändert. Beim sexuellen Missbrauch geht es um gesellschaftliche Machtstrukturen und nicht um Sensationalismus.
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