Mögliche Wiederwahl von Evo Morales: Schatten der Zukunft über Bolivien
Die Anhänger*innen und Widersacher*innen des umstrittenen Präsidenten polarisieren das Land. Der tritt trotz Widerstandes noch mal zur Wahl an.
Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch die Wolkendecke der bolivianischen Hochebene und tunken die Plaza Abaroa im Herzen von La Paz in warmes Frühlingslicht. Spazierende, Schuhputzer*innen und Geschäftsleute lauschen einem Cumbiastück, das aus einer Anlage am oberen Ende des Platzes dröhnt, sich mit dem Stottern der vorbeirauschenden Autos vermengt und die Stille durchbricht, die das Zelt von Óscar Henry Rojas füllt. Seit nunmehr acht Tagen befindet sich der Familienvater aus Cochabamba im Hungerstreik, um gegen die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Evo Morales zu protestieren.
„Es wird Zeit, das bolivianische Volk mit Informationen zu bewaffnen“, beschwört er einige Unterstützer*innen, die sich um sein Protestlager versammelt haben. Falten durchfurchen seine Stirn und münden in krausem, tiefschwarzem Haar. Hinter den Brillengläsern flackert die Empörung in den kastanienbraunen Augen des Aktivisten. Hier, direkt gegenüber des obersten Wahlgerichts Boliviens (TSE), haben er und vier weitere Mitstreitende ihr Lager aufgeschlagen, um ein Zeichen gegen die erneute Kandidatur des seit über zwölf Jahren regierenden Präsidenten Evo Morales zu setzen.
Henry hockt im Schneidersitz auf einer dünnen Matratze, auf der sich neben einem Schlafsack einige Wasserflaschen, ein Ladekabel und eine abgegriffene Ausgabe der Verfassung stapeln. Eine kleine bolivianische Flagge hängt von der Decke des Zelts herab. „Es wird jeden Tag schlimmer, doch unser Kampfgeist und unser Zusammenhalt wachsen mit jeder Minute“, antwortet er auf die Frage nach seinem Befinden. Der Eintritt in den Hungerstreik sei notwendig gewesen, schließlich müsse man endlich ein Zeichen setzen – für „Einheit, Freiheit und Demokratie“. Und gegen die Umgehung der Ergebnisse des Referendums vom 21. Februar 2016.
Eine knappe Mehrheit von 51,3 Prozent der Bolivianer*innen lehnte damals eine von der Regierung anvisierte Verfassungsänderung ab, die eine Wiederwahl des Präsidenten über zwei Amtszeiten hinaus erlaubt hätte. Bei den Wahlen am 20. Oktober tritt Morales trotzdem an. Denn im November 2017 urteilte das oberste Wahlgericht, die Begrenzung der Wiederwahl schränke politische Rechte ein und widerspreche der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, die Bolivien 1969 anerkannt habe. Seit dem Tag der Urteilsverkündung schreitet die Spaltung des Landes voran, Anhänger*innen und Widersacher*innen der Regierung stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber, immer öfter kommt es zu Ausschreitungen.
Für den Präsidenten und die regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) war die Niederlage beim Referendum der erste bedeutende Rückschlag, seit der ehemalige Anführer der Bewegung der Kokabauern aus den Wahlen im Dezember 2005 als deutlicher Sieger hervorging. Zum ersten Mal seit der Ausrufung der Unabhängigkeit Boliviens 1825 legte am 22. Januar 2006 ein Indigener den Amtseid im Palacio Quemado ab.
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Es folgten Jahre des Wandels: 2009 gab sich das Land eine neue Verfassung. Die Republik wurde zu einem plurinationalen Staat; das Wiphala, bunt kariertes Wappen der andinen Bevölkerung, zum offiziellen Staatssymbol und indigene Rechtssysteme als verfassungsgleich anerkannt. Die Regierung erhob Kenntnisse in einer indigenen Sprache zur Voraussetzung für die Bekleidung öffentlicher Posten, trat zur Wahrung des traditionellen Kokaanbaus aus der UN-Drogenkonvention aus und konnte die Armut im Land von 59,9 Prozent bei Übernahme der Regierungsgeschäfte auf 36,4 Prozent im Jahr 2018 reduzieren, während sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdoppelte.
Zweimal wurde Morales mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt, doch er geriet auch immer wieder in Bedrängnis. Etwa 2011, als er eine Autobahn mitten durch einen von Indigenen bewohnten Nationalpark bauen lassen wollte und ein international beachteter Protestmarsch von der Polizei gewaltsam unterbrochen wurde.
„Symbiose aus Autoritarismus und Totalitarismus“
„Evo Morales hat uns mit Gold in der einen Hand gelockt, während er uns aus der anderen mit Gift übergoss“, klagt Henry an und spricht erbost von grassierender Korruption und Vetternwirtschaft, vom Ausverkauf bolivianischer Rohstoffe und von der Abholzung des Amazonas-Regenwalds, der Verschwendung von Steuergeldern und einem zunehmend repressiven Kurs der Regierung, den er als „Symbiose aus Autoritarismus und Totalitarismus“ bezeichnet. Seine Stimme wird mit jedem Satz lauter, seine Sätze schneller und schnittiger, seine Augen aufgewühlter, und seine Hände zittern leicht, während er nach dem kleinen, von Markierungen gesäumten Heft greift – der 2009 verabschiedeten Verfassung. Mit ehrfürchtiger Stimme rezitiert er den 7. Verfassungsartikel, demzufolge die Staatsgewalt vom bolivianischen Volk ausgeht. „Wenn unsere eigene Regierung die Verfassung nicht mehr respektiert, dann müssen wir handeln. Die Geschichte“, sagt er mit Nachdruck, „verzeiht nicht das Fehlen von Zivilcourage.“
Im Stadtbild von La Paz fallen Morales’ Gegner*innen mehr auf, ihre Entrüstung ziert unzählige der mit Graffti besprühten Mauern. Aber ein großer Teil der Bolivianer*innen steht hinter Morales. Ihre Unterstützung vollziehe sich jedoch eher in stummer Übereinkunft mit dem Prozess des Wandels, den die Bewegung zum Sozialismus (MAS) seit ihrer Gründung losgelöst hat, erklärt Camilo in der Cafeteria der Universidad Mayor de San Andrés.
Der 23-Jährige unterstützt den soziopolitischen Kurs der Regierung, der das Bild eines homogenen Staatsvolks ablehnt, sich für die Anerkennung der Vielfalt im Land einsetzt und den Anspruch erhebt, traditionelle, indigene Organisationsformen in das Konzept der Demokratie einzuweben. „Unsere Lebensrealität ist eine andere, unserer Art der Organisation und des Zusammenlebens eine andere als die der Menschen im Westen. Die Anerkennung unserer Unterschiede und unserer Vielfalt ist die bisher größte Errungenschaft eines historischen Prozesses, der noch lange nicht zu Ende ist“, erklärt er seine Unterstützung des Regierungskurses.„Der Großteil der bolivianischen Bevölkerung durfte nie an der Demokratie teilhaben. Das ist inzwischen anders.“
Esteban, 23, Student
Auch Esteban ist 23, auch er studiert, aber er ist gegen Morales’ Kandidatur. „Wie sagt man?“, fragt er, während ein zynisches Lächeln über seine Lippen bricht. „Mit den Politikern ist es wie mit Windeln, man muss sie regelmäßig wechseln, damit sie nicht zu schmutzig werden.“ Aber er hat auch Angst. Wie so viele Bolivianer*innen fürchtet er, dass weder Opposition noch Regierung eine Niederlage in den anstehenden Wahlen akzeptieren. In Venezuela, sagt er „haben wir direkt vor der Haustür ein Beispiel, wohin all das führen kann.“ Seine Stimme stockt angesichts der Abgründe, die er vor Augen hat. „Und wenn wir einmal da angelangt sind, gibt es kein Zurück mehr.“
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