Mögliche Orte: Paranoides Suchen
■ Der S-Bahnhof Friedrichstraße ist das Berliner Laboratorium
Eine frühe Erzählung von Klaus Schlesinger beschrieb den „Berliner Traum“. Auf dem Weg zur Arbeit blieb sein Held wie angebunden in der U-Bahn sitzen und fuhr in den Westen hinüber. Der Wunsch- entpuppte sich als Alptraum. Das war der Berliner Traum Ost.
Meine Westversion handelte vom S-Bahnhof Friedrichstraße, der damals als Grenzübergang für Westdeutsche diente. Eine diffuse Angst bestand für den Zonenbesucher darin, den Eingang zur Übergangshalle, die heute Tränenpalast heißt, kurz vor Toresschluß wiederzufinden. Die damaligen Verspätungsdramen sind heute kleine Feste der Erinnerung an das wundersame Halbland.
Paranoides Suchen ist noch immer die Grundstimmung auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße. Die vielen Gänge führen in kein Zentrum, für das man vor den inzwischen seit zwei Jahren andauernden Umbauten einmal die große Durchgangshalle halten mochte. Von der U-Bahn-Linie 6 kommend, führt ein leicht ansteigender Aufgang wie früher in das rhizomartige Gebäude. Die verstaubten Kacheln lassen einen stillgelegten Schlachthofgang assoziieren, durch den einmal Rinder oder Schweine zum Tötungsvorgang getrieben wurden. Dort, wo man einbog zur Grenzkontrolle, führt nun ein Aufgang ins Freie.
Wer weiter dem Kachelgang folgt, landet auf einem Bahnsteig der S-Bahn, die in südlicher Richtung nach Wannsee fährt. Wo früher einmal Stufen und Rolltreppen zu den oberen Schienensträngen führten, sind heute die Zugänge verbarrikadiert. Sieben verschiedene Verkehrslinien demonstrieren Metropolencharakter. Beinahe verheißungsvoll taucht nach einiger Zeit des Herumirrens ein Schild mit der Aufschrift: „Richtung Osten“ auf, darunter, etwas kleiner, „eastbound“ und „vers est“. Zu den oberen Gleisen gelangt man über den langen Bahnsteig erst nach draußen, um schließlich durch provisorische Bretterlabyrinthe wieder ins Innere zurückzukehren.
Kleine Gewerbetreibende, Bockwurstmaxe und Taxifahrer haben hier einen schweren Stand. Am Ende eines Ganges, der ins Innere führt, findet sich ein Blumenkiosk, an dem man sich Kundschaft nur schwer vorstellen kann. Ist der Bahnhof stets auch ein Sammelpunkt für die Klasse der Ausgeschlossenen und Überflüssigen, so scheinen selbst diese den Ort zu meiden. Dessen einziger Zweck, Umsteigen, wird zu einer anspruchsvollen Orientierungsprüfung. Ein Hinweisschild verspricht einen Zeitungskiosk gleich um die Ecke, der aber erst nach zwei weiteren Ecken in bekanntem Bahnhofshäuschendesign auftaucht. In der dunklen Kellerödnis stößt man dann tatsächlich auf einen Zeitungshandel. Mehr Verwunderung war nie, hier auf ein Lädchen mit aktuellen Druckerzeugnissen zu treffen.
Der Bahnhof Friedrichstraße ist wohl genau das, was Bundespräsident Herzog unter einem Berliner Laboratorium versteht, ein erklärtes Werkstattprojekt, aus dem nur bedingt hervorgeht, was entstehen soll. Der Baugestängewald auf der oberen Gleisebene weist hin auf ein gigantisches Planwollen, dessen Endzustand kaum ausdenkbar ist. An einem Bretterdurchgang ist ein nagelneuer Plan des Bahnhofskomplexes aufgehängt, aus dem aber nicht hervorgeht, ob es sich um einen Ist- oder Soll-Zustand handelt. Beinahe täglich scheinen sich die Laufrichtungen zu ändern.
Doch es muß hier so etwas wie Zukunft geben. Neben einer Plastebank aus guter alter DDR-Zeit steht bereits ein öffentliches Sitzmöbel im 90er- Jahre-Design. An einer Baustellenzufahrt lagern tonnenweise Travertinplatten, die offenbar auf Verbauung warten. Der Bundespräsident, der zuletzt an deutschen Deichen unterwegs war, wird hierher wohl nicht auf Laboratoriumsbesuch kommen. Zu empfehlen bleibt ihm ein Buch von Karl Scheffler mit dem Titel „Berlin – ein Stadtschicksal“ (Neuausgabe bei Fannei und Walz). Der letzte Satz daraus ist gelegentlich auch Ernst Bloch zugeschrieben worden. Er besagt, daß Berlin dazu verdammt sei, immerfort zu werden und niemals zu sein. Hier am Bahnhof Friedrichstraße fällt sogar die Vorstellung schwer, daß es überhaupt wird. Harry Nutt
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