Mögliche Ausgrenzung einer Boxerin: Schlag auf Schlag
Sarah Scheurich soll nicht mehr für Deutschland boxen. Sie sagt: weil sie kritisch ist. Der Verband entgegnet, Grund sei die stagnierende Leistung.
Sarah Scheurich hat schon große Boxkämpfe gewonnen. Doch der Kampf, in dem sie sich momentan immer noch wähnt, ist für sie kaum zu gewinnen. „Ich kann jede Unterstützung brauchen“, sagt sie. Ihr Gegner ist ihr Verband. Genauer: der Deutsche Boxsport-Verband (DBV). Und es geht um ungemein viel für die amtierende deutsche Meisterin im Mittelgewicht. Ihre internationale Boxkarriere droht das vorzeitige Ende.
Der DBV hat sie bereits im Frühjahr aus dem Perspektivkader gestrichen. „Weil ich sage, was ich denke. Weil ich mir auch vom Verband nicht mein Recht auf Meinungsfreiheit einschränken lasse. Das so etwas möglich ist, ist peinlich für Deutschland“, erklärt Scheurich. Wegen mangelnder internationaler Perspektiven in ihrer Gewichtsklasse und stagnierender Leistungen sei das geschehen, erklärt Sportdirektor Michael Müller.
Sie wird in diesem Olympiazyklus nicht für Deutschland boxen. Anfang diesen Monats ist dieser Beschluss in Kraft getreten. Statt am Bundesstützpunkt trainiert die 28-Jährige derzeit überwiegend auf einem Dachboden in Hannover. Ende des Jahres läuft ihre Anstellung als Sportsoldatin aus. 75 Prozent ihres Gehalts bekommt sie noch drei weitere Jahre.
Wer diese Auseinandersetzung jetzt für einen gewöhnlichen Konflikt hält, wie er nun mal zwischen Sportler:innen und Verbänden vorkommen kann, der kennt Sarah Scheurich und den Deutschen Boxsport-Verband nicht. Anfang August hat Scheurich in einem aufsehenerregenden offenen Brief Missstände im deutschen olympischen Boxen angeprangert: die Einschränkung der Meinungsfreiheit, leistungs- und frauenfeindliche Strukturen, sexualisierte Gewalt, Mobbing und das willkürliche Beenden von Karrieren.
Konfliktstoff im Bundestag
Sechs ehemalige Boxer:innen haben die Anklageschrift unterzeichnet. Die Bundesregierung hat vor zweieinhalb Wochen einen Fragenkatalog der FDP dazu beantwortet. Der Konflikt mit all seinen Begleitumständen wird also schon im deutschen Parlament verhandelt.
In Opposition zu ihrem Verband ist die EM-Bronzemedaillengewinnerin von 2018 indes schon getreten, als sie sportlich unangreifbar war. Nachdem eine Boxkollegin 2017 einen Trainer wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt hatte, rief Scheurich die Kampagne „Coach don’t touch me“ mit ins Leben, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um keinen Einzelfall handele und der DBV sich nicht ernsthaft um den Schutz seiner Sportler:innen kümmere. Beim DBV reagierte man damals reichlich genervt auf Anfragen zu diesem Thema.
Deutlich genervter reagierte man allerdings, als Scheurich dem DBV letztes Jahr vorwarf, die Coronainfektionen des fast kompletten Boxteams beim Trainingslager im österreichischen Längenfeld im August 2020 bewusst in Kauf genommen zu haben. Dies grenze schon an fahrlässiger Körperverletzung, befand die Boxerin.
Insbesondere die Bündelung der Vorwürfe im bereits erwähnten offenen Brief Scheurichs bringen den Sportdirektor Michael Müller auf die Palme. Großes Lob vom Bundesministerium des Inneren (BMI) und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) habe man dafür erhalten, wie man die Missbrauchsvorwürfe im letzten Jahr am Heidelberger Bundesstützpunkt aufgearbeitet habe. Scheurich könne nicht so tun, als ob sich da nichts getan hätte. Das BMI und der DOSB hätten auch nach Untersuchungen den Verband von dem Vorwurf des fahrlässigen Verhaltens beim Trainingslager in Österreich freigesprochen.
Kosten des Aufbegehrens
Müller schimpft: „Nun wirft uns Frau Scheurich auch noch vor, undemokratisch zu sein. Was kommt als Nächstes? Das Maß ist jetzt voll. Für uns ist das ein Thema, das man jetzt beenden muss. Es geht darum Schaden für das olympische Boxen abzuwenden. Sponsorenverträge stehen auf dem Spiel. Wir haben hervorragende Medienanwälte beauftragt, die Angelegenheit zu prüfen.“
Scheurich hat man das schon wissen lassen. Es bestätigt sie in ihrem Gefühl, dass man als Sportler oder Sportlerin in diesem Verband ein sehr breites Kreuz haben muss, um aufzubegehren. Sie sagt: „Allein was mir da theoretisch an Gerichtskosten droht. Wie sollten das junge Leute aushalten?“ Es ist nachvollziehbar, dass sie ihre Ausbootung als eine politisch motivierte liest.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Erzählungen beider Seiten könnte gegensätzlicher nicht sein, und wenn die Wahrheit sprichwörtlich immer irgendwo in der Mitte liegen soll, fehlt einem doch die Fantasie, wo diese Mitte denn sein könnte. Zum Corona-Trainingslager sagt Scheurich, das BMI habe bei seinen Untersuchungen die Athleten gar nicht befragt. Sie habe im Kraftraum zusammen mit anderen Hotelgästen trainieren müssen und habe Fotos, um das zu beweisen. Müller sagt, er wäre nicht vor Ort gewesen, könne sich das aber nicht vorstellen. Er habe jedoch gehört, dass Scheurich nach ihrer Ankunft gleich in die Hotelsauna gegangen sei.
Der offene Brief, den der DBV als Antwort auf ihren offenen Brief verfasst habe, sei voller Unwahrheiten, sagt Scheurich. Es stimme nicht, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, den kompletten Trainingszyklus zu absolvieren. Sie schere nur ab und an aus den Aufwärmübungen aus, weil sie als erfahrene Profisportlerin mittlerweile ihr eigenes bewährtes Programm habe. Müller sagt, Scheurich hätte neunminütige Partnerübungen bereits nach drei Minuten abgebrochen und weinend in der Halle gesessen.
Einstimmiger Beschluss
Dass unter anderem ein Leistungsdiagnostiker ihre Herausnahme aus dem Kader empfohlen haben soll, amüsiert Scheurich. Im letzten Jahr habe es nur eine Leistungsdiagnostik gegeben und dabei seien ihre Werte wie zu den Zeiten gewesen, als man sie noch für tauglich befunden hätte. Müller entgegnet, ein Team aus zwölf Fachleuten, das alle Boxerinnen und Boxer auf ihre weitere Förderung hin bewerte, sei einstimmig zum gleichen Schluss gekommen. In den letzten anderthalb Jahren habe Scheurich keinen Wettkampf auf Weltniveau gewonnen. Die internen Olympiaausscheidungskämpfe gegen Christine Hammer habe sie deutlich verloren und sich boxtechnisch nicht weiterentwickelt.
Das Expertenteam habe zudem enorme Konzentrationsprobleme wegen ihrer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktiviätsstörung (ADHS) festgestellt, mit der Scheurich ja offen umgehe. Letzteres ist kein neues Phänomen, und die Betroffene sagt, eine Neueinstellung der Medikamente zuletzt habe ihr sehr geholfen. Sie könne wieder besser trainieren.
Es geht Schlag auf Schlag in dieser Auseinandersetzung. Jeder Anwurf wird sofort gekontert. Und natürlich ist es ein ungleiches Duell. Der Verband sitzt am längeren Hebel. Die Nachteile versuchen Scheurich und ihr Unterstützerteam mit möglichst großem Einsatz wettzumachen, der wie erwähnt bereits bis zum Bundestag geführt hat. Von der noch amtierenden Sportausschusssitzenden Dagmar Freitag (SPD) ist die Boxerin schwer enttäuscht. „Sie fordert immer den mündigen Athleten. Da dreht sich mir der Magen um.“ Auf eine Anfrage hin habe sie sich nicht positioniert.
Rainer Proch, Scheurichs Vater, schreibt: „Mittlerweile sind wir bei ihren meisten Social-Media-Kanälen gesperrt.“ Freitag sagt, sie hätte in einer schriftlichen Antwort ausführlich dargelegt, dass die Mitglieder des Sportausschusses keinen Einfluss auf die Entscheidung hätten, ob ein Verband jemanden aus der Sportfördergruppe der Bundeswehr herausnehme. Herr Proch habe ihr via Social Media vorgeworfen, die Karriere seiner Tochter zerstört zu haben. „Beschimpfen lassen muss ich mich auf einem privaten Account nicht.“
Immer weiter in den Sumpf
Im Lager Scheurich scheint ein Verzweiflungsgrad erreicht zu sein, welcher der eigenen Sache nicht unbedingt dienlich ist. Beim DBV berichtet man ebenfalls von Beschimpfungen via Mails. Michael Müller sagt: „Meinem Eindruck nach ist Sarah Scheurich eine Getriebene ihres Umfelds.“ Ihr Anwalt, Horst-Peter Strickrodt, sei für ein halbes Jahr sein Vorgänger als Sportdirektor beim DBV gewesen und betreibe einen persönlichen Rachefeldzug. Und Manfred Schumann, der ebenfalls Scheurich unterstütze, habe den niedersächsischen Boxverband als Präsident verschuldet verlassen und sei bis heute nicht entlastet.
Vermutlich hätten die beiden Herren zu diesen Geschichten auch noch einiges zu erzählen. Je weiter man sich in dieser Geschichte fortbewegt, desto sumpfiger wird der Boden.
Sarah Scheurich will wiederum nicht für das Handeln anderer Menschen zur Verantwortung gezogen werden. Sie möchte als Mensch und Boxerin ernst genommen werden. Und sie betrachtet sich nicht als Einzelkämpferin: „Unter der Hand sagen viele Boxerinnen, dass sie gut und vorbildhaft finden, wie ich mich verhalte.“
Im Deutschen Boxsport-Verband wird sie allerdings vor allem als Systemsprengerin wahrgenommen. Holger Stitz, der Leistungsdirektor am Bundesstützpunkt Hannover ist, wo Scheurich bis zuletzt trainierte, erzählt, ihre Mitbewohnerin in Hannover fange jetzt auch schon an, bei Trainingseinheiten aus Übungen auszuscheren. „Ich mag Sarah Scheurich. Sie ist ein toller Mensch“, sagt Stitz. Am größeren Engagement des DBV gegen sexualisierte Gewalt in den letzten Jahren habe Scheurich einen großen Anteil.
Im Boxring müsse sie aber trotz ihrer Erfahrung die Bereitschaft mitbringen, sich auf ihre Trainer und neue Dinge einzulassen, um wieder zu alter Leistungsstärke zurückzufinden. Er empfiehlt ihr den Wechsel zum belgischen oder luxemburgischen Verband. „Die würden sie mit Kusshand nehmen.“ Er steht hinter dem Beschluss des DBV. Als Leistungsstützpunkt sei man auf die Unterstützung des Gesamtverbands angewiesen und könne nicht gegen diesen arbeiten.
Sportdirektor Michael Müller glaubt nicht mehr an eine Versöhnung und an die Möglichkeit, dass Scheurich noch einmal zu ihrer sportlichen Stärke unter dem Dach des DBV zurückkehrt. Er wirbt um Verständnis für den Verband: „Am Ende sind das auch alles Menschen.“ Vielleicht ist das gerade auch das Problem.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen