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Moderne Schnitte

Gewalt im Kino (VIII): Man kann unterscheiden zwischen Filmen, die Verletzungen zeigen und Filmen, die verletzen wollen. Einwände gegen die Plünderung von Psychologien  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es ist ein Rasiermesser im alten Stil, fingerlang, das man ausklappt wie ein Taschenmesser. Der Mann schleift es, tritt heraus auf den Balkon. Man sieht den Vollmond. Der Mann öffnet das Auge einer Frau, die sich nicht wehrt und keine Angst zeigt. Wieder der Vollmond: eine langgestreckte magere Wolke zieht vorbei und trennt seine Form. Auf dem Balkon: Der Mann zieht die Klinge durch ihren Augapfel, der auseinanderbricht. (Schnitt) Das ist die berühmte Eingangssequenz in Buñuel/Dalis „Der andalusische Hund“ von 1928.

Das Kino ist am Ende der zwanziger Jahre eine noch immer neue Kunstform, irgend etwas zwischen glamourösem Theater und Freakshow. Es verwebt die Mythen der Lesenden mit der Proletenlust nach sichtbarer Entgleisung und Verformung. Im Kino erlischt, bis zu einem gewissen Grad, die soziale Ordnung und rührt massiv an der Konvention der Geschlechter: Plötzlich gibt es für alle sichtbare weibliche Stars. Ins anonyme Publikum mischen sich, der Kontrolle des gelenkten Blicks entzogen, die Frauen.

Buñuel/Dali wollen natürlich ans Archaische rühren, indem sie einen Mann als denjenigen vorführen, der die Waffe zum Einsatz bringt. Soweit ist die Szene konventionell. Würde mit dem Messer das Auge eines Mannes verletzt, wäre es das Auge des Patriarchen, des Kunstkenners, des Herrenzimmerherren, des Priesters und Voyeurs. Indem es das Auge einer Frau ist, wird klar, daß der Angriff tatsächlich dem neuen Publikum, dem Publikum des Kinos, gilt.

Das Gegenteil von „Gewalt im Kino“ ist natürlich nicht ein „Kino ohne Gewalt“; das ist ein rosaroter Wunsch, Kitsch, illusionär. Es geht darum, wie weit Verwundung, Verstümmelung und Tod so gezeigt werden, daß sie die psychischen Instanzen von Zuschauern durchlöchern und durchdringen, so daß keine Abwehr mehr möglich ist. Es ist gar keine Frage, daß fast sämtliche Chicago-Krimis der 30er Jahre und fast sämtliche Western der 50er nicht taugen, die BetrachterInnen um den Schlaf zu bringen. Die Oppositionen sind klar, die Konflikte werden gelöst, und die Faszination zu sehen, wie Gute und Böse Kinnhaken bekommen, im Autositz zusammensacken oder wie ein Kartoffelsack vom Pferd fallen, geht auf in der Logik der anderen Bilder des Films.

Mit „Peeping Tom“ wird das Interesse für die Innenwelt der Psychopathologie geweckt und auf die komplexe Formel gebracht, daß der Zuschauer mit dem Täter im Bunde sei. Denn Tom filmt seine Opfer, während er sie ersticht. Gleichzeitig macht sich der Film über diesen Umstand lustig. Auch wenn seine Landsleute es nicht zu schätzen wußten, ist das wohl britischer Humor. Der hat den enormen Vorteil, daß die Verwandtschaft von Psychopathologie und Kino nicht so gewendet wird, daß der Mörder-Voyeur Heldenstatur annimmt. Er bleibt so ulkig wie seine cinematographische Obsession. Das ist 1960, in der großen Schlußphase des schwarzweißen Films.

Die Apokalypse des Kleinbürgertums

Der Kinofilm in Farbe, der den Wandel in dem Gefühl der Autoren für Gewalt darstellt, ist „A Clockwork Orange“ von 1971. Der Verbrecher kommt als launiger Satyr daher. Halb auf dem Theater, halb im apokalyptischen Roman, kann man bei den Klischees in die vollen greifen: Die Eltern sind feige Kleinbürger, die Vergewaltigungs- und Mordopfer exaltierte stinkreiche Bourgeois, bei der Kripo sitzen die Folterer, der „experimentelle“ Psychologe steht unter der Knute eines reaktionären Ministers. Natürlich zeigt sich auch das verkrüppelte Opfer endlich als Sadist: ein Fascho-Märchen.

Die Schlüsselszene ist die Vergewaltigung einer Frau in einem orangeroten Strickanzug vor den Augen ihres geknebelten und am Boden liegenden Mannes, der selbst in dieser Situation noch als röchelnder Alter verhöhnt wird, allein durch den Einsatz der Kamera. Als ersten Schritt der Vergewaltigung schneidet Alex, der Erzähler, dem wehrlosen Opfer mit einer Schere das Kleid so auf, daß die Brüste nackt herausschauen. Die Beschreibung des Vorgangs aus der Sicht des Ehemannes reicht aber nicht aus; das Detail wird später auf Brusthöhe gefilmt nachgereicht. Kubrick will uns schwer kompromittieren.

Am Ende der Reihe, die mit „A Clockwork Orange“ beginnt, liegen vorerst Oliver Stones „Natural Born Killers“ sowie David Lynchs „Wild at Heart“ und „Twin Peaks: Fire Walk With Me“ (beide Regisseure Jahrgang 1946). Die hektische Geschwindigkeit von Stone und die kaugummiartige Langsamkeit bei Lynch haben die gleiche Funktion, nämlich das Gaffen zu kitzeln und den Verstand einzuschläfern. Gemeinsam ist den drei Filmen, daß sie die Mädchenhelden als Opfer sexueller Gewalt in der Familie darstellen. Die Perfidie liegt darin, daß die Selbst-Stigmatisierung von Frauen als Opfer – die größte Sackgasse linker Sozialisation – übernommen wird. Die Bilder, die dazu angeboten werden, sind allerdings vorsätzlich Cartoon und Persiflage. Im flachen Schnitt der Motivlage, Rebell mit Grund zu sein, ähnelt die weibliche Heldenfigur ihrem männlichen Gegenpart: und das geht als sarkastische Form von „Liebe“ durch. Die ekelerregende Anzüglichkeit dieser Filme soll kompensieren, daß sie den Versuch, körperliche Zuwendung (wie auch immer hilflos, jugendlich, als Trost etc.) überzeugend zu zeigen, aufgegeben haben.

Weit davon entfernt, das Inventar der Gewalt im Kino damit erstellt zu haben, würde ich unterscheiden zwischen Filmen, die Verletzungen zeigen und Filmen, die verletzen wollen. „Ein andalusischer Hund“ ist die Schule der Autoren (und Produzenten), die ihr Publikum verletzen wollen. Entscheidend dabei ist, daß es für ein Bild (oder eine Einstellung oder eine Szene) in Kauf genommen wird, alle anderen Bilder des Films preiszugeben. Buñuel und Dali hatten damals erklärt, sie hätten „die Beschränkungen der üblichen Moral oder Vernunft aufgegeben“. Das war wohl eher eine schöne böse Hoffnung, was die frivolen bis albernen surrealistischen Tableaus, Schnitte und Montagen betrifft. Es ist aber wirksam geworden in der Technik, den Zuschauer mit einem unauflösbar brutalen Bild allein zu lassen.

Die Attraktion autoritärer Bösewichte

Der Wunsch, dem Publikum nicht zu gefallen, sondern es zu verstören, ist das Urbegehren der Moderne, das Markenzeichen der selbsternannten Avantgarde. Selbstverständlich war immer vorausgesetzt, daß die Zerstörung der bürgerlichen Kultur, das Ende des Erzählens oder die Schließung aller Museen nicht wirklich zu erreichen sind; das würde nämlich den Verlust des Gegners bedeuten, den man braucht.

Die Durchsetzung der Farbe im Kino hätte eigentlich dazu führen müssen, daß Verwundung und Verstümmelung des menschlichen Körpers mit größerer Zurückhaltung dargestellt werden als zuvor. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es gibt eine ganze Industrie von Ausstattern und Special-effects-Meistern, deren Können darauf gerichtet ist, abgetrennte Köpfe und ihre Restrümpfe mit der gleichen Suggestion darzustellen wie die intakten Körper der Darsteller, die umgekehrt zu Vorläufern ihrer Leichen werden. Es ist leichter, durch einen Messerschnitt zu verstören als durch den Schnitt der Cutterin.

Oliver Stone versucht sich gleich in beiden Disziplinen. „Natural Born Killers“ ist kein auf hollywoodianisch durcherzähltes Gewaltspektakel, sondern eine zweistündige Montage mit den Techniken von MTV, die MTV nicht erfunden hat: schräge Kamera, plötzliche Rückblendenschnipsel, Manipulation der Farbkontraste in der laufenden Einstellung, Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß im Modus von Schnitt und Gegenschnitt und ein schier unerklärlicher, pulsierender bis sentimentaler Soundtrack, der so gut wie nie abreißt. So suggeriert Stone, die Binnensicht psychopathologischer Killer genauso zu erfassen wie das System, gegen das sie angeblich rebellieren (die USA sind, kurz gesagt, in seiner Version ein faschistischer Staat). Stone verletzt das populäre Gebot der Kontinuität – daß man den Schnitt (Cut) nicht sieht – und füllt die freiwerdenden Leerstellen auf mit seiner „rücksichtslosen Paranoia“, die aus dem Irrtum geboren ist, daß „autoritäre Bösewichte glamourös sein könnten“ (David Thomson). Das Beunruhigende ist nicht die Gewalt als Schußwaffenmißbrauch und nicht die Torpedierung der Erzählung durch die angestrengten Zitate moderner Bildfindung, sondern in seinem Fall die lüsterne Kombination beider.

Wie „Natural Born Killers“ wurde einst „A Clockwork Orange“ von Kriminellen als Vorbildfilm genannt. Beiden Filmen ist eigen, daß sie die Psychologien plündern und der Willkür anvertrauen. Außerdem bieten beide Filme sarkastische Phantasien an, was die Interdependenz von Gewalt und deren Abbildung betrifft. Indem die Täter der Wirklichkeit sich darauf berufen, stilisieren sie sich als eigentlich unbegreiflich. Insofern könnte man sagen, daß sie etwas begriffen haben.

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