Mode in Vietnam: Der vielleicht demokratischste Zweiteiler der Welt
Ein ikonisches Kleidungsstück, der Đồ bộ, droht aus Vietnam zu verschwinden. Bitte nicht!

Beim Frühsport, beim Einkauf, beim Kartenspiel. In der Hocke sitzend, auf einem Motorrad fahrend, Suppe am Imbissstand schlürfend. Sie sind überall in Vietnam: Frauen in bunten Zweiteilern, geblümt, kariert, gepunktet oder alles zusammen. Inmitten des vietnamesischen Stadtbildes, das ja sonst eher pragmatisch-chaotisch erscheint, sind sie wandelnde Blumensträuße, die eine beruhigende Süße verströmen.
Đồ bộ heißen die Zweiteiler, und sie sind für vietnamesische Frauen die Kleidung ihres Alltags, weil sie diesen nun einmal so sehr erleichtern. Đồ bộ sind bequem und günstig in der Anschaffung. Sie ersparen ihren Trägerinnen, sich unnötig über die tägliche Garderobe Gedanken machen zu müssen, und sie sind funktional. Dank seitlicher Hosentaschen und Einsteckmöglichkeiten im Hemd können Schlüssel und Kleingeld handtaschenfrei transportiert werden.
Vor allem von den sogenannten Street Food Ladies werden Đồ bộ getragen, also von Frauen, die mit ihren Essensständen die Begegnungsstätten schlechthin geschaffen haben und diese anmutig regieren. Und das findet nun mal für gewöhnlich in der Hocke statt, weshalb ihre Kleidung schön sein kann, aber praktisch, bequem und unkompliziert sein muss.

Außerhalb von Vietnam werden die Đồ bộ fälschlicherweise als Pyjama stigmatisiert, und auf den ersten Blick erinnern sie tatsächlich ein wenig an Schlafkleidung aus dem globalen Westen. Doch ihr Schnitt offenbart feine Unterschiede. Đồ bộ sind gerade so figurbetont, dass es nicht zu schlumpig-schlafig aussiehen, ihre Taille ist gerade so weit angedeutet, dass sie der Silhouette etwas Elegantes verleiht.
Bunte Zweiteiler als Alltagsmontur
Gefertigt sind sie aus leichten Materialien wie Baumwolle, Seide oder, na gut, manchmal auch aus Polyester, und ihr Farbmustermixspektakel erzählt von dem Land, aus dem sie stammen. Von Straßen, in denen kirschrote Plastikhocker neben knallblauen Plastiktischen stehen.
Wo aus orangen Plastikschalen gegessen wird, während die Händlerinnen frische grüne Kräuter in gigantischen pinken Plastiksieben abtropfen lassen. Und drumherum Lampions, Wäsche, Reklameschilder, Stromkabel. In Vietnam existiert die Farbe Beige nur in Form des Baguettes Bánh mì.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zum westlichen Pyjama liegt im Ursprung des Kleidungsstücks, dem Áo bà ba – übersetzt: „Omas Hemd“. Dieses ikonische Oberteil ist aus Seide, kragenlos, vorne geknöpft und seitlich geschlitzt. Im 19. Jahrhundert entdeckte der Gelehrte Trương Vĩnh Ký das Hemd auf der heute zu Malaysia gehörenden Insel Penang und brachte es von dort aus nach Vietnam.
Dort wurde es in den ländlichen Gemeinden des Mekongdeltas zum Zweiteiler erweitert und zur Alltagsmontur. Einfarbig und mit passender Hose wurde es von Frauen und Männern gleichermaßen beim Kochen oder auf den Reisfeldern geschätzt. Bekanntheit erlangte vor allem der schwarze Áo bà ba, als er von den amerikanischen Streitkräften im Vietnamkrieg als Việt-Minh-Uniform fehlgedeutet wurde. Dabei eignete sich Schwarz – wie auch Braun – einfach gut für die schmutzintensive Draußenarbeit.
Merkmale des Áo bà ba wie die seitlichen Schlitze oder die Kragenfreiheit finden sich auch in den Đồ bộ wieder. Vielleicht liegt es am Ende des Krieges, dass die Kleidung mit der Zeit bunter und gemusterter wurde. Doch wie es mit Aufwärtsbewegungen so läuft: Pragmatismus und Fortschritt haben zwar verwandte Intentionen, führen aber nicht zwingend in die gleiche Richtung.
Während Vietnam sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Asiens entwickelte, haben sich die Ansprüche verändert. Kleidung wird nicht mehr nur aus praktischen Gründen gewählt.
Der Duft der Heimat
Die Töchter und Enkelinnen der Street Food Ladies von heute wachsen in relativem Wohlstand auf, und mit dem Privileg, sich über Mode auszudrücken und das eigene Individuum zu zelebrieren. Statt dass an kleinen Ständen dieses und jenes gekauft wird, findet Shopping in der klimatisierten Mall statt, mit internationalen Produkten und einer unendlichen Auswahl.
Und so werden Traditionen auf einmal als rückständig betrachtet und hinterfragt. Wie etwa durch die Schauspielerin Tuyền Mập, die 2021 im vietnamesischen Fernsehen über die Kleiderwahl vieler Landsfrauen klagte: „Das Erschreckendste sind Bilder von Menschen in Pyjamas. Es ist unmöglich zu verstehen, warum solche Kleidung auf der Straße getragen wird.“ In den sozialen Netzwerken entfachte Mậps Unverständnis eine Welle der Gegenwehr – doch es gab auch einige Zustimmung.
Einen gänzlich anderen Blick offenbart der Schneider Thành Duyên, der seit mehr als dreißig Jahren Đồ bộ herstellt. Im Interview mit dem Magazin Ngôi Sao vergleicht er sie mit dem Duft der Heimat, den jedes Kind in der Ferne vermisst, und bedauert, dass die fröhlichen Zweiteiler sich „im Laufe der Jahre in der Küche versteckt“ haben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was schade ist. Denn in Städten voller kuratierter Kleidungsstücke können Đồ bộ eine tröstliche Erinnerung an Zeiten sein, in denen das Tempo unmotorisiert und das Leben einfacher war. Und ganz konträr zu dem Vorwurf, die Zweiteiler seien unangezogen-unhöflich, sind sie in Wirklichkeit doch sehr sozial: Niemals müssen sich die Menschen, denen eine Đồ-bộ-Trägerin begegnet, underdressed und dadurch weniger wert fühlen.
Das Outfit vermittelt Gleichheit, es ist kein Statussymbol, sondern Ausdruck von einem uneitlen Zusammenleben, von Zugänglichkeit und Respekt. Das Leben in Vietnam findet nun mal draußen und im steten Kontakt mit anderen statt, und diese Grundzutaten sind unentbehrlich für einen guten Schnack und Tratsch.
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