: Wenn das Kino ins Dorf kommt
Die Organisation Cinéma Numérique Ambulant (CNA) hat bisher in ganz Burkina Faso Filmvorführungen organisiert. Jetzt schränkt das die Sicherheitslage immer mehr ein. Dabei sind Filme viel mehr als nur Ablenkung und Unterhaltung
Von Katrin Gänsler
Es ist kurz nach 18 Uhr und fast stockduster in Tanghin-Dassouri, einer Stadt knapp 30 Kilometer südwestlich von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou. Bis zum Sonnenuntergang haben auf dem staubigen Platz mitten im Zentrum Jungs Fußball gespielt. Da es nirgendwo Straßenlampen gibt, sind sie längst nach Hause gegangen. Angekommen sind dafür Agathe Ouedraogo und ihr Team vom Cinéma Numérique Ambulant (CNA), einer Organisation, die sich 2001 gegründet hat. Heute ist das „mobile digitale Kino“ in neun afrikanischen Ländern und Frankreich präsent. Jüngstes Mitglied ist seit 2019 die Elfenbeinküste.
Hier in Tanghin-Dassouri sind die Mitarbeiter*innen damit beschäftigt, schwere Metallstühle in Reihen aufzustellen, eine große Leinwand und den Projektor aufzubauen. Aufgestellt wird auch der Generator, durch den die Organisation unabhängig ist. Selbst in den Dörfern und Kleinstädten in der Nähe der Hauptstadt gibt es keine Garantie für eine Stromversorgung. Es dauert keine 20 Minuten, um den Platz in ein Open-Air-Kino zu verwandeln.
Heute Abend hat es drei Filme im Angebot. Nun dröhnt Musik aus den Lautsprechern, die ankündigt: Etwas Besonderes und Außergewöhnliches passiert. Nach und nach kommen vor allem Kinder, die sich auf den geflochtenen Matten vor dem riesigen Bildschirm hinsetzen und gebannt darauf starren. Es ist etwas, das die Mehrheit noch nie in ihrem Leben gesehen hat.
Agathe Ouedraogo steht an der Seite, wirft einen prüfenden Blick auf den Projektor sowie den Computer und schaut den ersten Besucher*innen zu. Seit Jahren bringt sie in Burkina Faso das Kino überall dorthin, wo es keins gibt. „Es macht mich glücklich zu sehen, wie sich die Menschen darüber freuen“, sagt sie. Da sind die ersten Kinder bereits aufgestanden und tanzen.
Das Kino hat in Burkina Faso schließlich eine lange Tradition. Das Land, in dem gut 21 Millionen Menschen leben, ist Gastgeber des größten afrikanischen Filmfestivals, dem Fespaco, und konnte anders als die Nachbarländer mehrere Traditionskinos erhalten. Auch die 43-Jährige ist mit Filmen aufgewachsen. „Zu Hause hatten wir einen Videorekorder, und meine Eltern haben viele Filme geschaut.“ Ihren ersten mit dem Titel „Bako, das andere Ufer“, eine franko-senegalesische Produktion aus dem Jahr 1979, wird sie nicht vergessen. In Ouagadougou hat der Kinobesuch früher auch beim Dating eine Rolle gespielt. „Es war selbstverständlich, dass ein Junge sein Mädchen am Samstagnachmittag ins Kino eingeladen hat. Anschließend hat er sie zum Essen ausgeführt.“
Auf dem Land ist das anders, auch wenn das wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum scheinbar schnell und problemlos zu erreichen ist. Daniel Batima starrt deshalb gebannt auf die Leinwand. Er ist 18 Jahre alt, kennt das Kino aber nicht. „Ich würde mir das gerne mal in Ouagadougou anschauen. Aber dafür habe ich gar kein Geld.“ Zur Eintrittskarte, die umgerechnet 2,30 Euro kostet, kommen die Transportkosten. Für viele Menschen ist das schlicht nicht erschwinglich. „Es ist toll, dass das Kino hier kostenlos ist. Alle Kinder sind da. Wir freuen uns darüber.“ Er steht mit einer Gruppe von Freunden zusammen, die sich jetzt weiter hinten auf die Metallstühle setzt. Der Kinosaal unterm Sternenhimmel füllt sich immer mehr.
Gezeigt wird heute Abend ein Animationsfilm über Yacouba Sawadogo, den Träger des Alternativen Nobelpreises aus Burkina Faso, der im Norden Bäume gegen die Wüstenbildung pflanzt. Danach folgt der Kurzfilm „Zalissa“ über ein Mädchen, das von seiner Mutter zur Arbeit gezwungen und dabei vergewaltigt wird. Hauptfilm ist „Une vie de rêve“ des burkinischen Filmemachers Abdoul Aziz Nikiema.
Damit, sagt Agathe Ouedraogo, können Filme über Lebenssituationen gezeigt werden, die die Zuschauer*innen aus eigener Erfahrung kennen. „Wir können unsere afrikanischen Künstler*innen unterstützen und zeigen: Auch hier in Burkina Faso werden Filme produziert.“ Zwar hat Netflix zunehmend Filme afrikanischer Regisseur*innen im Angebot und mit Nollywood ist die weltweit zweitgrößte Filmindustrie in Westafrika. Den internationalen Markt dominieren aber weiterhin Produktionen aus den USA und Europa.
Eine Herausforderung bleibt die Sprache. Im Land werden rund 70 verschiedene gesprochen. Hauptverkehrssprache ist Moré, offizielle Sprache Französisch. Doch die spricht längst nicht jede*r. Auch Untertitel helfen nicht: Mehr als 60 Prozent der über 15-Jährigen sind Analphabet*innen. Bevor der erste Film beginnt, erklärt Agathe Ouedraogo deshalb kurz auf Moré, worum es sich bei dem Animationsfilm handelt.
Ohnehin wird rund um die Vorstellungen viel erklärt, besprochen und diskutiert. Das sei ein weiteres Anliegen des Cinéma Numérique Ambulant, sagt in Ouagadougou Wend-Lassida Ouedraogo, Präsident der Organisation. Debatten zum Inhalt der Filme gehören dazu. „Wir wählen Themen aus, die die Menschen ansprechen und mit denen sie täglich konfrontiert werden. Beschneidung ist ein solches.“ Mithilfe der Leinwand sei es möglich, über Tabus zu sprechen. Das ist auch in Zeiten – etwa während des Herrschaft von Expräsident Blaise Compaoré –, in denen es um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt war, wichtig gewesen. Ein weiterer Pluspunkt ist für Ouedraogo: „Das Kino bringt alle Bevölkerungsschichten zusammen.“ Menschen, die sonst keinen Kontakt miteinander haben, sitzen zufällig nebeneinander und schauen den gleichen Film an.
Wend-Lassida Ouedraogo, CNA-Präsident
Eins schränkt die Organisation aber weitaus mehr als die Coronapandemie ein: die zahlreichen Angriffe durch Terrorgruppen und Banditen im Land. Erst Mitte November starben in der Provinz Soum im Norden 32 Menschen, 28 von ihnen Soldat*innen. Mehr als 1,4 Millionen Menschen sind vor der Gewalt auf der Flucht.
„In der Region Sahel können wir überhaupt keine Aufführungen mehr organisieren, obwohl wir dort früher mehr als 100 Veranstaltungen jährlich hatten“, so Ouedraogo. In Gegenden, in die sie noch fahren kann, hat die Organisation ihr Programm umgestellt. Aufführungen finden tagsüber in abgedunkelten Klassenräumen statt. Alle Zuschauer*innen werden kontrolliert. Um Debatten zu organisieren, arbeitet CNA auch mit lokalen Radiosendern zusammen.
Doch auch in Ouadougou wird nach Einschätzung von Wend-Lassida Ouedraogo häufig eins vergessen: Die Lebenswirklichkeiten der rund 2,5 Millionen Einwohner*innen sind extrem unterschiedlich. Für viele ist das Kino nur theoretisch erreichbar.
„Einmal haben wir in einem Viertel unser Open-Air-Kino aufgebaut, als eine Frau das sah. Sie hat ihr Fahrrad geschoben, blieb stehen und sagte: „Das ist aber ein großer Fernseher.“ Sie kannte nur das Fernsehen, aber nicht das Kino.“ Doch genau das kann auch Ablenkung vom häufig beschwerlichen Alltag schaffen. Das Internet und Streamingdienste ersetzen das bisher nicht. Selbst in der Hauptstadt ist die Verbindung häufig so schlecht, dass Filme ständig ruckeln und abbrechen. Vor allem ist es teuer. Je nach Angebot kostet ein Gigabit zwischen 2,40 und 5,50 Euro, unerschwinglich für die meisten. Offenes WLAN gibt es fast nirgendwo.
Das kostenfreie Angebot, so ist Wend-Lassida Ouedraogo sicher, kann deshalb auch den Traditionskinos in der Hauptstadt helfen. Wer einmal Geschmack gefunden hat, wird sich wieder einen Film anschauen wollen, ist er sicher. „Wir können nur das lieben lernen, was wir auch kennen.“ Einem ist die Begeisterung jedenfalls anzumerken: Daniel Batima in Tanghin-Dassouri. Nach den ersten beiden Vorführungen freut er sich auf den Hauptfilm. „Es wäre toll, so etwas auch mal in Ouagadougou zu sehen“, sagt er.
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