Mobile Musikanlagen: Mit tiefer Liebe zu den Bässen
Soundsystems wurden im Jamaika der frühen 1950er erfunden. Ungefähr zeitgleich entstanden sie auch in Kolumbien und Brasilien. Eine Spurensuche.

Eine Wand aus Lautsprechern, mehrere Meter breit und höher als ein Mensch. Ganz unten aufgereiht sind die Bassboxen, auf die es besonders ankommt. Dreht der DJ die Musik auf, vibriert der Asphalt und die Bässe werden buchstäblich körperlich spürbar: als tiefe Frequenzen mitten in die Magengrube. Eine solch dröhnende Boxenwand gehört zu jedem anständigen Soundsystem, wie kollektiv betriebene mobile Musikanlagen heute in aller Welt genannt werden.
Es heißt, ihre Geschichte habe in Jamaika begonnen. Aber interessanterweise sind Soundsystems ungefähr zeitgleich auch in anderen Teilen der Karibik und Lateinamerikas entstanden und haben mit lokalen Traditionen eigene Musikkulturen entwickelt, die bis heute lebendig sind.
In Jamaika war es der jamaikanisch-chinesische Geschäftsmann Tom Wong, der unter seinem Alias Tom the Great Sebastian in der Hauptstadt Kingston 1950 als Erster Stromgenerator, Plattenspieler, Verstärker und riesige Boxen auf einen Pritschenwagen packte und damit Partys auf den Straßen veranstaltete.
Tanzmusik für Ärmere
Für ärmere Jamaikaner*innen war das eine Sensation: Nun konnten sie Tanzmusik persönlich genießen, während der Eintritt zu den Ballsälen der Oberschicht ihre finanziellen Möglichkeiten überstieg. Dass sich die Soundsystems durchsetzten, hatte auch mit einem zwischenzeitlichen Mangel an Musikern zu tun: Viele von ihnen migrierten damals nach Großbritannien, andere spielten in den boomenden Hotels an der Nordküste ausschließlich für Touristen.

Album: Verschiedene: „Edna Martinez presents picó: Sound system culture from the Colombian Caribbean“ (Strut Records / K!7, Indigo, 2025)
Videos: „Amplified Roots“, 3 Episoden über Soundsystems in Barranquilla, Belém und Mexiko-Stadt bei Youtube (Boiler Room, 2025)
Bücher: Norman Stolzoff: Wake the town and tell the people – dancehall culture in Jamaica (Duke University Press, 2000). John Krich: Why this land is dancing? A one-man samba to the beat of Brazil (Simon & Schuster, 1993)
Anfänglich war es allein Rhythm and Blues aus den USA, der auf die Plattenteller kam. Seit Ende der 1950er Jahre entstanden in Jamaika unter dem Einfluss vom heimischen Mento und dem Calypso aus Trinidad allmählich eigene Popstile – erst der shuffelnde Ska, dann der entspanntere Rocksteady, schließlich der basslastige Reggae, über den Bob Marley später sagte: „This is music about struggle. Reggae is a vehicle to carry a message of freedom and peace.“
Während sich die Soundsystems von Kingston aus über die ganze Insel verbreiteten, wurde Pionier Tom Wong von anderen ausgestochen, darunter Duke Reid, Polizist und Inhaber eines Spirituosengeschäfts, mit seinem Trojan Soundsystem und Downbeat von Sir Coxsone Dodd, der 1963 das legendäre Reggae-Label Studio One gründete.
Soundclashes und dubplates
Im Laufe der Zeit begannen Soundsystems gegeneinander anzutreten. Solche soundclashes sind bis heute populär; „gewonnen“ hat am Ende derjenige, der am meisten Zuspruch vom Publikum erhält, weil er den fettesten Klang und die besten dubplates am Start hat – Unikat-Versionen beliebter Songs als Acetat-Singles, oft mit neuem Text, manche instrumental.
Es bildeten sich auch eigene Berufe rund um die Soundsystemkultur heraus. Sie waren eine attraktive Möglichkeit für junge Männer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wichtig wurde neben dem plattenauflegenden DJ, der im jamaikanischen Slang selector genannt wird, vor allem die mit Mikrofon ausgestatteten master of ceremonies, kurz MCs (wobei diese in Jamaika verwirrenderweise deejays genannt werden).
Der erste bekannte war Count Machuki. Er improvisierte vor dem Mic perkussive Geräusche, sprach und scattete, bevor ein neuer Song aufgelegt wurde, witzige Intros im jamaikanischen Patois, manchmal sogar auf Spanisch. Sein Sprechgesang wurde zum Vorbild für die toaster (wie U-Roy) im Reggae der 1970er Jahre – und Machuki im gewissen Sinne auch zum Vorgänger der Rapper im HipHop. Zu seinen Nachfolgern zählte King Stitt mit seinen unvergesslichen Reimen: „No matter what the people say / These sounds lead the way / It´s the order of the day from your boss deejay / I King Stitt / Up it from the top to the very last drop…“
Knallbunte picós in Barranquilla
Rund 800 Kilometer von Kingston entfernt soll das erste Soundsystem sogar noch früher das Licht der Welt erblickt haben: 1937 im Viertel San Roque der kolumbianischen Küstenstadt Barranquilla. Eco del ritmo hieß es, „Echo des Rhythmus“. Hier deutet sich schon im Namen an, dass besondere klangliche Effekte zum Kern eines jeden Soundsystems gehören. An der Karibikküste Kolumbiens redet man allerdings von picós. Die fallen optisch stärker auf als ihre Artverwandten in Jamaika, da sie oft in knallbunten Farben und mit psychedelischen Motiven bemalt sind.
Traditionell spielen sie neben Salsa und Folkgenres wie Vallenato vor allem Champeta, einen kolumbianischen Stil, der deutlich vom kongolesischen Soukous und seinen perlenden Gitarren geprägt ist. Die große Bandbreite der picó-Musik lässt sich auf einer neu erschienenen Compilation hören, die von Edna Martinez, DJ und Musikkuratorin am Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW), zusammengestellt wurde. Was die picós bei allen Unterschieden mit den jamaikanischen Soundsystems verbindet, ist die tiefe Liebe zu den durchdringenden Bässen.
Es war im Jahr 1950, als sich beim Karneval in Salvador de Bahia, Brasilien, etwas ereignete, das Musikgeschichte schrieb: Osmar Macedo und „Dodô“ Nascimento, zwei musikbegeisterte Freunde – dem einen gehörte eine Autowerkstatt, der andere war Elektromechaniker –, hatten die Idee, ihre Gitarren mit Verstärker auf Osmars klapprigen Ford, Jahrgang 1929, zu hieven, um damit beim Karneval musizierend durch die Straßen zu fahren. „Wir haben meine alte Kiste aufgemöbelt, einen offenen Zweisitzer. Hinten kam ein Lautsprecher drauf, und ab ging's“, erinnert sich Osmar in John Krichs wundervollen Buch „Why is this country dancing?“.
Gigantische trio elétricos in Bahia
Schon vorher war es Dodô gelungen, eine Gitarre elektrisch zu verstärken (weshalb es in einem späteren Lied – wenn faktisch auch unzutreffend – heißt: „Antes de gringo, a guitarra ele inventou“ – „Noch vor den Gringos hat er die E-Gitarre erfunden“). Als dann 1951 noch ein dritter Freund hinzustieß, war das trio elétrico geboren – das „elektrische Trio“, eine Band auf Rädern also, eine Art Soundsystem für Livemusik beim Karneval.
Von Jahr zu Jahr wurden die trio elétricos größer, die Wattzahl der Verstärker stieg, ebenso wie Anzahl und Volumen der Boxen. Längst sind es große Sattelschlepper, auf deren Ladefläche ein Block aus mächtigen Lautsprechern steht – und auf ihnen eine mehrköpfige Bands mit Tänzer*innen (die angeblich innovativen Techno-Trucks der Berliner Loveparade haben also Vorläufer, deren Anfänge vierzig Jahre früher liegen!). Heute noch sind die trio elétricos eine der wichtigsten Institutionen im „schwarzen“ Karneval von Bahía, der von afrikanischen Sklaven und ihren Nachfahren geprägten ehemaligen Hauptstadt Brasiliens.
Noch weiter im Norden des Landes als Bahia liegt an der Mündung des Amazonas in den Atlantik die Stadt Belém. Die Metropole ist musikalisch stark von der Karibik beeinflusst, und es waren Schmugglerschiffe, die in den 1950er Jahren neben Parfüm und Whiskey auch Merengue-, Salsa- und Zouk-Platten ins abgelegene Belém brachten. Findige Bewohner begannen dann damit, auf Handkarren Plattenspieler mit Boxen zu installieren und außer Musik aus der Karibik auch lokale Stile wie Carimbó und Forró zu spielen. Mit der Zeit wurden die Gefährte, die sie dabei benutzten, größer und größer – und auch technisch anspruchsvoller.
Illuminierte aparelhagems in Belém
Inzwischen sind Soundsysteme à la Belém riesige Ungetüme und unter der Bezeichnung aparelhagems („Geräte“, „Stereoanlage“) geläufig. Eines der derzeit größten heißt Crocodilo. Es hat die Form eines Krokodils, in dessen Mitte der DJ thront. Die langgestreckte Schnauze des Krokodils lässt sich aufklappen, stößt Rauch aus und und wird von blinkenden LED-Leuchten illuminiert. Der Schlüssel zum Erfolg eines aparelhagem seien gerade seine technischen Innovationen, heißt es in einer Untersuchung von 2015. Seine Qualität werde an der Fähigkeit gemessen, das beste Erlebnis in Bezug auf Licht, Ton und Spektakel zu bieten.
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Tecnobrega in Belém

Der Ruling Sound des aparelhagem ist inzwischen eingängiger Tecnobrega, die elektronische Variante des Brega, der übersetzt so viel wie „Kitsch“ bedeutet. Gleichwohl ist Tecnobrega wie die aparelhagems eine „periphere Kultur“ geblieben. Andererseits haben die Partys in Belém inzwischen große ökonomische Bedeutung, Tausende Menschen leben davon (und für sie) – sie gelten als erfolgreiches Beispiel einer informellen Ökonomie im Kultursektor und sind für die Identität Beléms prägend.
In Mexiko-Stadt war es hingegen der Hingabe einiger Vinyl-Aficionados zu verdanken (wie es in einem Video der „Amplified Roots“-Reihe zu sehen ist), dass in den 1950er Jahren auch hier sonideros genannte Soundystems Einzug hielten. Die vielleicht verrückteste mexikanische Innovation in diesem Bereich erfolgte allerdings erst viel später: Als Anfang der 1990er Jahre in Monterrey im Nordosten des Landes die allgegenwärtige Cumbia aus Kolumbien langsamer abgespielt wurde.
Dass es dazu kam, war anscheinend Zufall: Bei einer Party konnte der überhitzte Plattenspieler des sonidero der Familie Dueñez plötzlich nicht mehr die Geschwindigkeit halten. Geboren war die Cumbia rebajada. Diese „verlangsamte Cumbia“ klingt ziemlich schräg, es lässt sich aber hervorragend zu ihr tanzen – und so wurde sie zum musikalischen Erkennungszeichen Monterreys.
Ratternder Baile Funk in Rio de Janeiro
Wer in der Karibik oder Lateinamerika unterwegs ist, sollte sich den Auftritt eines lokalen Soundsystems nicht entgehen lassen – auch wenn das an die körperlichen Grenzen gehen kann. Meine härteste Erfahrung war vor rund zehn Jahren in Rio de Janeiro: DJ Pernalonga („Langbein“), einer der wenigen Schwulen in der Baile-Funk-Szene der Stadt, legte in der Favela Complexo do Lins ratternden Elektro auf, zu dem schwitzende Tänzer*innen ihre Körper aneinander rieben.
Um mich herum schnüffelten viele an der Klebstoff-artigen Droge loló, gelegentlich reckte jemand inmitten der Menge angeberisch eine Waffe in die Höhe (und dem Fotografen, der mich begleitete, wurde „zum Spaß“ zwischendurch eine Knarre an den Kopf gehalten). Sonst blieb alles friedlich und freundlich. Nur war die Musik so laut, dass ich danach noch tagelang taub war. Vergessen werde ich diese Nacht aber in meinem ganzen Leben nicht mehr.
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