: Mit geschärften Klingen
Die Berliner Künstlerin Sarah Schumann setzte sich ab den späten 1950ern mit dem Bild der Frau auseinander – und dieses mit Schere und Kleber neu zusammen. Dann wurde sie vom Kunstbetrieb vergessen. Eine Einladung zur Wiederentdeckung

Von Antonia Wolff
Zwei Frauen sitzen an einem Tisch, denken, rauchen, jede für sich, der Blick klar und kontemplierend. Es sind die Freundinnen der Künstlerin Sarah Schumann, sie hat sie 1977 mit Schere und Kleber ins Bild gesetzt. Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen und die Schriftstellerin und Übersetzerin Ann Anders sind zwei Protagonistinnen der Intellektuellenszene im Westberlin der 1970er Jahre und der zweiten Frauenbewegung.
Im Bildzentrum steht hochkant eine Ausgabe der von Helke Sander gegründeten Zeitschrift Frauen und Film und daran angelehnt ein großes Küchenmesser. Messer und Schere sind in Schumanns Œuvre dieser Jahre überall. Sie sind für die Collage-Künstlerin das Werkzeug der Bildkritik. Ihr Thema ist das Bild der Frau.
Selten sind selbst in Berlin, wo Sarah Schumann geboren ist und viele Jahre lebte und arbeitete, Werke der Künstlerin zu sehen. Eine Gelegenheit gibt es aktuell in einer Einzelausstellung in der Galerie Meyer Riegger in Berlin-Charlottenburg. Gezeigt wird dort – als eine von vielen – auch die eingangs beschriebene Collage.
Schumanns Auseinandersetzung mit Weiblichkeitskonstruktionen begann nicht erst in den politisch bewegten 1970er Jahren, sondern nahm bereits im Frühwerk ihren Anfang. Die Künstlerin wird 1933 in Berlin geboren und beginnt schon als Kind mit dem Zeichnen. Sie bleibt Autodidaktin, besucht nie eine Akademie. In den 1950er Jahren entstehen erste abstrakte Gemälde. Wolkige Gebilde in Gelb und Braun, Lila- und Rosatönen im Zeichen des Informel. Sie liegt damit ganz im Trend der Abstraktion, die Werner Haftmann und Arnold Bode 1959 mit der zweiten documenta zum Gebot der Stunde erklären.
Gleichzeitig zu den abstrakten Gemälden fertigt Schumann in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Fotocollagen an. Bilder, für die sich heute auf dem Kunstmarkt der Begriff Schockcollagen etabliert hat. Ausschnitte aus Magazinen und Zeitungen verbindet sie zu surrealen, poetisch-dissonanten Kompositionen. Die Motive entstammen dem Zeitgeschehen: Autounfälle, Trümmerlandschaften, Soldaten, Erschießungskommandos. Der Vietnamkrieg taucht auf, auch der Zweite Weltkrieg, den die Gesellschaft der Adenauer-Ära so bemüht ist zu verdrängen. Dazwischen Pin-ups, Filmstars, antike Skulpturen. Immer wieder Marilyn Monroe, Filmikone und Sexsymbol. Oder die Mona Lisa, deren Lächeln sich auch angesichts eines Zugunglücks nicht verzieht.
Die Gleichzeitigkeit von Krieg und Gewalt, Konsum und Oberfläche machte die Pop Art ebenso zum Thema wie politische Künstler der Fluxus-Bewegung. Bei Sarah Schumann geht diese Konfrontation quer durch die Jahrhunderte. Ihre ambigen, traumartigen Bilder handeln von den Höhenflügen und Abgründen der menschlichen Existenz; von den Errungenschaften der Kultur ebenso wie von den Katastrophen und Verwüstungen der Menschheitsgeschichte. Und dadurch zieht sich wie ein roter Faden die Auseinandersetzung mit den überlieferten Bildern der Frau.
Als Schumann 1960 ihre Ehe auflöst und nach London geht (sie war bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Kunsthändler Hans Brockstedt verheiratet und lebte in Hamburg), feiert sie künstlerische Erfolge. Sie stellt im renommierten Institute of Contemporary Arts aus und verkauft ihre Arbeiten gut. Weil London teuer wird, zieht sie 1963 weiter nach Italien. Für wenig Geld erwirbt sie ein sanierungsbedürftiges Haus im Piemont, erlebt dort jedoch eine persönliche Krise.
Zurück in Berlin, wird die Frauenbewegung ab 1968 zu ihrem wichtigsten Bezugsfeld. Gemeinsam mit der Filmemacherin und Autorin Helke Sander gründet sie die Gruppe Brot und Rosen, die über Frauengesundheit und den Schwangerschaftsabbruch aufklärt. 1972 gibt die Gruppe das „Frauenhandbuch Nr. 1“ heraus (spätere Auflage: 100.000), Schumann gestaltet das Cover. Für die von Sander gegründete feministische Filmzeitschrift Frauen und Film entwirft sie viele Titelblätter.
1977 realisiert sie gemeinsam mit sechs Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen unter der Trägerschaft der Berliner neuen gesellschaft für bildende Kunst die Ausstellung „Künstlerinnen international 1877–1977“. Rund 1.000 Werke von 182 Künstlerinnen tragen sie zusammen, darunter so schillernde Namen wie Frida Kahlo und Martha Rosler oder Dorothea Tanning und Meret Oppenheim. Die Schau ist aus kunsthistorischer Sicht eine Pionierleistung feministischer Geschichtsarbeit. Erstaunlich, dass sie bis heute in Vergessenheit geriet.
Als Collagistin setzte Schumann in den 1970er Jahren ihren eigenen Zeitgenossinnen ein Denkmal. An die Stelle der Pin-ups aus der Presse, der Marmorbüsten und der Mona Lisas tritt in ihrem Œuvre zu der Zeit das Motiv der Freundin. Groß und prominent, selbstbewusst in der Bildmitte platziert, befinden sich die Frauenfiguren inmitten von überzeitlichen Landschaften. Neben Helke Sander und Schumanns Partnerin Silvia Bovenschen stehen die Schriftstellerin Iris Wagner, die Historikerin Marianne Herzog und die Künstlerinnen Evelyn Kuwertz und Ursula Lefkes Modell. Sie fotografiert, schneidet, klebt, malt, montiert, übermalt. Ursula Lefkes’Ehemann, der Filmemacher Harun Farocki, verewigt diese Arbeitsweise in seinem Film „Ein Bild von Sarah Schumann“, der 1978 im WDR ausgestrahlt wird.
Wie kann es sein, dass das Werk Schumanns, die 2019 in Berlin verstarb, heute kaum bekannt ist? Sicher auch, weil ein Großteil des Frühwerks lange Zeit verschollen war. Viele Jahre lagerten die Arbeiten auf dem Dachboden von Schumanns früherem Ehemann Hans Brockstedt. 1983 zeigte sie der Hamburger Kunstverein, danach landeten sie wieder auf dem Speicher. Im Nachlass von Brockstedt entdeckte ein Bekannter Schumanns, der Verleger, Gestalter, Ausstellungsmacher und Schnapsbrenner Christoph Keller, das Konvolut. Rund 60 Collagen und 15 Gemälde hat er daraufhin in einer quasi-musealen Ausstellung versammelt. Die Galerie Meyer Riegger bot dafür ihre Räume an. Nur zu sehen sind die Arbeiten dort, verkäuflich sind sie nicht. Alle Beteiligten sind überzeugt, dass das Frühwerk eine Entdeckung ist und an die Öffentlichkeit gehört.
Derzeit hängen die frühen informelle Gemälde von Sarah Schumann übrigens nicht nur in der Berliner Ausstellung, sondern auch im Emil Schumacher Museum Hagen. Dort versammelt die Schau „InformELLE“ 16 abstrakt malende Künstlerinnen der 50er und 60er Jahre und erweitert so den Kanon der männlich dominierten europäischen Nachkriegsabstraktion um vergessene Positionen. Zu sehen sind neben Werken von etablierten Künstlerinnen wie Maria Helena Vieira da Silva und Maria Lassnig auch zahlreiche Neuentdeckungen, darunter Sarah Schumann.
Manch früher Kritiker fand Schumanns Bilder kitschig. Diejenigen, die ihre Qualität erkannten, lobten das angeblich spezifisch Weibliche ihrer Malweise – in der Geschichte der Kunstkritik leider ein alter Hut, der seit jeher auch dazu dient, Künstlerinnen aus dem Spielfeld der männlichen Kollegen herauszuhalten. In den 1970er Jahren stießen Schumanns Bilder schöner, erhabener Frauen auch bei manchen Feministinnen auf Skepsis. Es war die Zeit der Body Art, der Video- und Performancekunst und des radikalen Zugriffs auf den eigenen Körper als Material. Für den Kunstmarkt war Schumann zu „weiblich“, für die feministische Kunst zu rosa. Heute besteht zwischen feministischen Anliegen und pinker Farbe kein Widerspruch. Es ist also wirklich an der Zeit, Sarah Schumann neu zu entdecken.
Sarah Schumann: „Collagen und Gemälde aus den Jahren 1954–1982“, Galerie Meyer Riegger Berlin, bis 1. November; Katalog (Spector Books, Hrsg. Christoph Keller): 38 Euro.„InformELLE. Künstlerinnen der 1950er/60er Jahre“, Emil Schumacher Museum Hagen, bis 11. Januar 2026.
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