Buch zu NS-Städtebau: Mit der Kriegsindustrie kam die Stadt
„Städtebau im Nationalsozialismus“ von Harald Bodenschatz zeigt die Bauplanungen der Nazis. Es gab sie auch abseits der bekannten Führerarchitektur.

Welche Berührungspunkte gibt es heute zum Städtebau des NS? Beim Flanieren über den Münchener Königsplatz oder an der Strandpromenade von Prora werden sich wohl wenige Menschen Gedanken über die Umstände machen, wie diese Bauten entstanden sind.
Wer in Salzgitter wohnt, weiß vielleicht, dass die Gründung der Stadt mit den einstigen Hermann-Göring-Werken in direktem Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen der Nazis stand. In Linz werden die Wohnsiedlungen für Rüstungsarbeiter auch heute „Hitlerbauten“ genannt und bieten noch immer einen begehrten Wohnraum.
Einen umfassenden Einblick will der Band „Städtebau im Nationalsozialismus“ geben. Acht Autor*innen zeichnen für die Beiträge verantwortlich, Primus inter pares ist Harald Bodenschatz.
Seit mehr als 25 Jahren erforscht und vergleicht der Berliner Stadtplaner und Sozialwissenschaftler den Städtebau unter den europäischen Diktaturen, unter Stalin, Mussolini, Salazar, Franco und jetzt unter Hitler.
Viele Vorhaben nicht öffentlich gemacht
Ziel dieses Buches ist es, den Städtebau im NS nicht nur mit einem kritischen Blick auf die bekannten „Bauten des Führers“ zu beleuchten, sondern auch die verdeckten Bauplanungen einzubeziehen. Denn viele Bauvorhaben wurden von den Nazis nicht öffentlich gemacht, wenn sie der Militarisierung und Aufrüstung, der Repression oder Beherrschung der besetzten Länder dienten.
„Städtebau im Nationalsozialismus. Angriff, Triumph, Terror im europäischen Kontext 1933–1945“. Herausgeben von Harald Bodenschatz u. a. DOM Publishers, Berlin 2025, 624 Seiten, 128 Euro
Deshalb bezieht der Band auch die „Produktionsbedingungen“ des Städtebaus mit ein, etwa die gesetzlichen Bestimmungen, und geht ebenso auf die „Akteure und Interessengruppen“ ein, die oft in Konkurrenz zueinander standen.
Das Spektrum des NS-Städtebaus reicht im Buch von der Staatsarchitektur bis zum Lager- und KZ-System, von den Bauwerken für das Militär bis zu den Heimen der Hitlerjugend. Auch Altstadtsanierungen kommen vor, zum Beispiel die Viertel an der „Alten Waage“ in Braunschweig oder der Molkenmarkt in Berlin, und der immense Bau neuer Wohnungen: Kleinsiedlungen, Volkswohnungen, Großsiedlungen im Geschossbau und Baracken- und Behelfsbauten.
Ebenso beschreiben die Autor*innen die vielen Infrastrukturmaßnahmen oder Planungen zu den annektierten und besetzten Gebieten. Vor allem in den Ostgebieten, wo es die Nazis auch auf die Ausbeutung von Ressourcen abgesehen hatten, setzte man die Vertreibung und Ermordung großer Teile der ansässigen Bevölkerung voraus.
Wilhelm Hallbauer, der vormalige Stadtbaudirektor von Wilhelmshaven, zum Beispiel, ging für Łódź/Litzmannstadt davon aus, dass etwa 300.000 jüdische und 50.000 polnische Bewohner*innen vertrieben werden konnten. Ab Februar 1940 wurde der südliche Teil der Stadt geräumt und ein Ghetto eingerichtet.
Für wachsende Städte angelegt
Der NS-Städtebau, so zeigt das Buch, sollte ausgesprochen wandlungsfähig sein. Legte man 1935 noch aus Kostengründen die Größe einer Volkswohnung für eine fünfköpfige Familie auf unter 40 Quadratmeter fest, konnte zwei Jahre später die Deutsche Arbeitsfront eine 4-Raum-Wohnung als Standard einbringen. Wandlungsfähig auch, weil ab Mitte der 1930er Jahre Großstädte und Ballungsgebiete wieder wuchsen.
Der NS-Städtebau kann auch nicht ohne die Propaganda begriffen werden. Mit Filmen, Ausstellungen, Publikationen inszenierte das Regime seine Tatkraft und Vormachtstellung – auch im Vergleich zu Italien und zur Sowjetunion.
Bodenschatz’ Band setzt die Arbeiten etwa von Werner Durth, Hartmut Frank oder Winfried Nerdinger fort, die seit den 1980er Jahren auch die peripheren und unspektakulären Bauprojekte in die Analyse der NS-Architektur und Stadtplanung einbezogen haben.
Doch tauchen auch ein paar blinde Flecken im Buch auf. Korrekt weisen die Autor*innen zwar darauf hin, dass die Nationalsozialisten größtenteils in Gebäude für Militär und Aufrüstung investierten, doch unterscheiden sie nur unscharf Maßnahmen für die Rüstungsindustrie von denen des Militärs und des Zweiten Vierjahresplans.
Auch bleibt außen vor, welchen Aufschwung Mitteldeutschland durch Militarisierung, Aufrüstung und Ausbau der Grundstoffindustrie erfuhr, denkt man etwa an die Entwicklung der Junkerswerke in Dessau: Die Zahl ihrer Beschäftigten wuchs von 4.000 (1933) auf 250.000 (1942) an. Allein in Mitteldeutschland gründete man acht Zweigwerke.
Neu geplante Städte
Kurz gehalten ist zudem das Thema Stadtneugründungen. Genannt werden die prominenten Beispiele Wolfsburg oder Salzgitter. Von 1934 bis 1942 planten die Nazis aber viele weitere neue Städte oder ländliche Siedlungen, etwa die Trabantenstadt zwischen Warnemünde und Rostock für die Heinkel- und Arado-Flugzeugwerke oder im Rahmen des Vierjahresplanes im badischen Blumberg, in Schkopau und Bad Lauchstädt.
Und noch ein interessanter Fakt findet nicht genügend Beachtung: Bei größeren Vorhaben fehlten häufig die finanziellen Mittel. Erst 1938 hatte das Regime zusätzliche Gelder bereitgestellt und das Reichsarbeitsministerium mit der Prüfung betraut. Auch das Technische Amt des Reichsluftfahrtministeriums konnte manch ein Bauprojekt „durchdrücken“.
Doch solche Mängel kann man den Autor*innen verzeihen. Sie legen mit „Städtebau im Nationalsozialismus“ eine fundierte Darstellung eines Stücks düsterer Architekturgeschichte vor, bis ins planerische Detail.
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