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Mit der Geige an die Front

Die ukrainische Klassik wird entdeckt, Frauen erzählen über den Krieg, an die Toten wird erinnert: die Ukraine bei der Frankfurter Buchmesse

Der Krieg sind die Namen. Messestand der Ukrainie auf der Frankfurter Buchmesse Foto: imago/Peter Henrich/HEN-Foto

Von Jens Uthoff

Eine Zahl, ein Zitat, viele Namen. Sie prangen an einer gelb-blauen Wand in Halle 4, dort, wo die vielen ukrainischen Buchverlage ihren gemeinsamen Auftritt haben. „Wenn sie mich fragen, was Krieg ist, antworte ich ohne zu zögern: Namen“, lautet der Satz, der dort groß geschrieben steht. Er stammt von Maksym „Dali“ Kryvtsov, ukrainischer Lyriker und Soldat, getötet im Alter von 33 Jahren am 7. Januar 2024 an der Front in der Region Charkiw.

Die Namen der getöteten Künst­le­r:in­nen, Autor:innen, Schriftsteller:innen, Dreh­buch­schrei­be­r:in­nen sind hier auf Klebezetteln angepinnt: Victoria Amelina (1986–2023), Volodymyr Vakulenko (1972–2022), Yuliia Shevchenko (1999–2023), mehr Namen, noch mehr Namen. Darüber steht die Zahl 263. So viele Kulturschaffende zählt die Ukraine bislang, die dem russischen Angriffskrieg zum Opfer gefallen sind. Das Projekt „Nedopysani“ („disrupted writings“) erinnert an die Toten und ihre Texte. Die Ukraine ist, zum Glück, auch dieses Jahr wieder sehr präsent bei der Frankfurter Buchmesse, der Slogan „Stand with Ukraine“ wird hier doppeldeutig. Um Gedenken geht es dabei einerseits, ist doch die gezielte Auslöschung der Intellektuellen durch Russland vergleichbar mit der „Erschossenen Wiedergeburt“ unter Stalin in den 1930er Jahren. Andererseits zeigt sich hier die enorme Produktivität der ukrainischen Kultur zu Kriegszeiten.

„Die Ukraine ist mehr als nur der Krieg“, sagt etwa Slava Svitova bei einer Veranstaltung zu weiblichen Stimmen im Krieg („The Role as Witnesses To History“). „Es ist wichtig zu zeigen, was wir anzubieten haben, eine vitale feministische Szene, Kultur, Film, Musik, Start-ups, die ständig Neues entwickeln.“ Svitova hat in Kyjiw den Creative Women Space und den Verlag Creative Women Publishing gegründet. Die Schriftstellerin Yulia Iliukha aus Charkiw, die ebenfalls auf dem Podium sitzt, sagt, weibliche Stimmen seien in der Geschichte oft unerhört gewesen zu Kriegszeiten, dies zu ändern sei ihre Agenda. Iliukha hat für ihren Band „Meine Frauen“ vierzig Frauen im Krieg porträtiert – es ist ein naher, intimer, brutaler, ungeschönter Blick auf das Frausein im Krieg.

Was der Krieg auch hervorgebracht hat: eine eigene militärische Einheit, die für Kultur zuständig ist. Die Cultural Forces bringen Musik und Literatur an die Front, vergleichbar etwa mit der Wolf Pack Band der US-Armee im Zweiten Weltkrieg. In Frankfurt sitzt Vladyslav Holovin in Soldatenuniform am Messestand, er ist für die Kommunikation der rund 100 Mann und Frau starken Einheit zuständig. Die Truppe bestünde vor allem aus Künstler:innen, die als Sol­da­t:in­nen gedient haben und im Kampf versehrt und verletzt wurden. „Wir sagen ihnen: Du kannst unsere Streitkräfte weiter unterstützen, mit deiner Gitarre, deiner Geige oder deiner Stimme“, erzählt Holovin. „So stärkst du die Moral unserer Leute.“ Holovin zeigt ein Insta-Video des ukrainischen Opernsängers Yurii Ivaskevych. Er verlor ein Bein, trägt nun eine Prothese und singt unter anderem vor seinen Ka­me­ra­d:in­nen an der Front.

Rund 200 Veranstaltungen monatlich organisiere die Einheit, so Holovin, meistens fänden die Lesungen und Konzerte vor einer kleinen Gruppe von Sol­da­t:in­nen statt. Seit dreieinhalb Jahren gibt es die Cultural Forces, ein prominenter Unterstützer ist Schauspieler Sean Penn. Großes Thema sei derzeit, wie sie die psychologische Unterstützung durch ihre Einheit verbessern könnten, so versuchten sie Psy­cho­lo­g:in­nen zu gewinnen, die selbst über Kampf­erfahrung verfügen und so besser helfen könnten.

Die Entdeckung der klassischen ukrainischen Literatur im deutschsprachigen Raum ist in vollem Gange. So veröffentlicht der Wallstein Verlag eine Ukrainische Bibliothek mit bedeutenden Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, herausgegeben wird die Reihe von der Übersetzerin Claudia Dathe und der ukrainischen Schriftstellerin und Essayistin Tanja Maljartschuk. Werke von Lesja Ukrajinka („Am Meer“) und Taras Schewtschenko („Flieg mein Lied, meine wilde Qual“) sind bereits erschienen. Ebenfalls überfällig war das im Frühling erschienene Kompendium „Ukrainische Literaturgeschichte“ von Ulrich Schmid in der Metzler Bibliothek. Nachgezeichnet wird darin die Kulturgeschichte von der Kyjiwer Rus bis heute. Der Eindruck: Nun wird nachgeholt, was seit 1991 (und davor) versäumt wurde.

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