Mit dem Rad durchs Baltikum: Weite Strände, tiefe Wälder

1.300 Kilometer per Rad von Danzig nach Tallinn, der „guten Stube“ des Baltikums: unterwegs auf einsamen, wenig befahrenen Straßen.

Rapsfelder in Litauen Bild: Toomas Järvet/sxc

„Tallinn?“ Der litauische Grenzbeamte schaut uns skeptisch an. Auf unser bejahendes Kopfnicken entfährt ihm noch ein lang gedehntes „Jesus“, dann reicht er uns die Pässe zurück. Noch immer werden Radfahrer mit einem mitleidigen Lächeln bedacht, doch der Nordosten Polens und das Baltikum sind für Radfahrer wie geschaffen.

Unser Startpunkt ist die alte Hansestadt Danzig mit ihrem liebevoll restaurierten Stadtzentrum. Durch die Masurische Seenplatte führt der Weg unter schattigen Alleen, durch wunderbare Wälder und an großen offenen Seen vorbei nach Osten. Schon bald sind wir restlos begeistert - der weite Horizont erzeugt Fernweh.

Nun also Litauen. Von jetzt ab werden wir alle zehn Tage in ein neues Land mit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur und einer anderen Währung kommen. Das Baltikum ist überschaubar und doch enorm weitläufig und vielfältig. Allen drei Ländern gemein ist die lange Vergangenheit als Spielball übermächtiger Nachbarn. Der Beitritt zur EU wird deshalb auch als Garantieerklärung für die im Jahr 1991 errungene Unabhängigkeit gewertet.

In den Städten begegnet uns die Vergangenheit auf Schritt und Tritt. Kaunas zum Beispiel ist mit 400.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Litauens. Zwischen 1920 und 1940 war sie provisorische Hauptstadt des Landes, weil Vilnius von Polen besetzt war. Vor dem ehemaligen Parlament steht heute allerdings wieder ein Denkmal für Antanas Smetona, dem rechtsautoritären Diktator der Zwischenkriegsjahre. Ungebrochenes Nationalgefühl scheint wichtiger zu sein als Vergangenheitsbewältigung.

Im Tal des Nemunas, der Memel, säumen nur wenige kleine Dörfer und Städtchen das Ufer des längsten litauischen Flusses. Die wenig befahrene Straße lädt zum Radeln ein, und nach 200 sehr entspannenden Kilometern erreichen wir das Kurische Haff. Mit einem Fischerboot setzen wir nach Nida auf der Kurischen Nehrung über, die als schmale Landzunge das Haff von der Ostsee abtrennt. In Nida hatte sich Thomas Mann 1930 ein Sommerhäuschen bauen lassen, das heute als Museum dient. Schöne, reetgedeckte Häuser bilden den Ortskern. Hauptattraktion Nidas ist Europas größte Wanderdüne an der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad, und in den Wäldern gibt es noch Elche.

Viele Besucher kommen allerdings nicht allein wegen der Natur. Gerade bei den älteren „Heimwehtouristen“ steht die deutsche Vergangenheit des Memelgebiets im Vordergrund. Zeigen sich viele Gäste einfach neugierig auf die Heimat ihrer Eltern oder Großeltern, wird bei manchen Gesprächen jedoch schnell deutlich, dass für sie der Zweite Weltkrieg immer noch nicht verarbeitet ist.

Nördlich von Klaipeda hört der deutsche Tourismus jenseits des ehemaligen „Memelgebiets“ schlagartig auf. Dabei erstreckt sich der endlose Sandstrand an der Ostsee über mehr als 250 Kilometer weiter nach Norden. Richtig einsam wird es im lettischen Kurzeme, dem Kurland. Hier lässt sich Natur pur genießen. Grandiose Sonnenuntergänge über dem Meer, die rauschende Ostsee sowie die unberührten Wälder sorgen für landschaftliche Highlights. Auf einem Feld entdecken wir einen großen Schwarm von seltenen Schwarzstörchen. Menschliche Besiedlung ist hier bestenfalls dünn, Selbstversorgung ist deshalb für Bewohner wie für Touristen wichtig.

Storch an der Kurischen Nehrung Bild: pixelio.de

Der Individualtourismus sorgt jedoch für viele neue Angebote. Das beste baltische Restaurant treffen wir ausgerechnet in Nica im dünn besiedelten Kurzeme an. Vor allem im Tourismus sieht man in den ärmlichen ländlichen Gegenden Zukunftsperspektiven.

Angesichts der landschaftlichen Reize, deutlich steigender Tourismuszahlen und der vielen Radfahrer, die wir auf der Tour treffen, scheint diese Hoffnung nicht ganz unberechtigt zu sein. Auch staatlicherseits erkennt man die Bedeutung der Zweiräder. So verabschiedete das litauische Parlament im Oktober 2004 ein Gesetz zum Aufbau eines landesweiten Radwegnetzes. Bis dahin wird aber noch viel Zeit vergehen. Momentan gibt es neben einigen wenigen gut ausgebauten Straßen noch viele ungeteerte Wege, die für Radfahrer eine echte Herausforderung sein können. Serviceläden sind zudem eine Seltenheit. Auch hier ist Selbstversorgung angesagt.

Nach den Wäldern Kurzemes bietet Riga einen scharfen Kontrast. Fast die Hälfte aller Letten wohnt im Einzugsbereich der Hauptstadt - kein Wunder, dass der Rest des Landes so menschenleer wirkt. An den Ufern der breiten Daugava herrscht hanseatische Atmosphäre. Wunderbare Jugendstilviertel, Prachtbauten der russischen Zarenzeit und eine Altstadt, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, machen den Reiz von Riga aus. Unter der Oberfläche schlummern aber auch hier Konflikte. So leben deutlich mehr Russen als Letten in Riga, und bei Fragen der Staatszugehörigkeit und der Unterrichtssprache gibt es regelmäßig politische Auseinandersetzungen.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete für Riga wie für das gesamte Baltikum einen tiefen Einschnitt. Erst besetzte die Sowjetunion die Länder, dann die Nazis und schließlich wieder die Sowjetunion. In rasantem Tempo ermordeten SS-Einheiten 1941 die große jüdische Bevölkerungsgruppe. In Riga endete nach 1941 auch der Leidensweg vieler deutscher Juden, zum Beispiel aus Münster oder Bielefeld. 1944/45 flohen viele lettische Helfer der Nazis vor der anrückenden Roten Armee in den Westen und entkamen so ihrer Verantwortung. Tiefe Spuren hinterließen zudem die Massendeportationen, die Stalin nach Sibirien durchführen ließ.

Kaum sind wir hinter der Stadtgrenze von Riga, befinden wir uns praktisch wieder im Wald. Wir freuen uns nun auf Estland. Der Südosten des Landes enttäuscht uns nicht. Ein abwechslungsreiches Mittelgebirge, die schmucke Universitätsstadt Tartu und der riesige Peipus-See markieren den Weg nach Norden. Glanzvoller Höhepunkt ist jedoch Tallinn. Die historische Altstadt mit den mittelalterlichen Gässchen, der intakten Stadtmauer und den vielen Wehrtürmen ist so etwas wie die gute Stube des Baltikums. Am Ende unserer Tour genießen wir die wunderbare Atmosphäre. In Tallinn haben wir den Schnittpunkt zwischen russischem und skandinavischem Einfluss erreicht. Katharina die Große ließ sich hier eine Residenz bauen, eine russisch-orthodoxe Kathedrale dokumentiert den Einfluss der Zaren. Doch die Menschen schauen heute wieder nach Finnland und Schweden als wichtigste Nachbarn. Helsinki liegt nur 90 Kilometer entfernt jenseits des Finnischen Meerbusens.

Wer ins Baltikum fährt, erlebt Gesellschaften im Umbruch. Gerade die kulturelle Vielfalt und die landschaftlichen Kontraste machen den Reiz der drei Länder aus. Eine Radtour ist eine der besten Möglichkeiten, auf Entdeckungsreise zu gehen. Wir haben keinen Tag bereut.

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