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Mit dem Megaphon geschrieben Von Susanne Fischer

Herzliche Grüße aus dem Paralleluniversum. Meine Welt sieht zwar noch irgendwie so ähnlich aus wie die von anderen Leuten, aber sie fühlt sich anders an. Wie sich so eine Welt eben anfühlt, wenn man nachts alle drei Stunden aufstehen muß, um einem niedlichen kleinen Diktator den Hintern abzuwischen. Tagsüber muß man übrigens auch alle drei Stunden aufstehen, aber man hat sowieso keine Zeit, um sich hinzulegen, und insofern ist es auch egal.

Dünne Wege führen aus der richtigen Welt in mein Paralleluniversum. Sie werden von Freunden und Verwandten beschritten, die Geschenke für das Neugeborene bringen. Meist handelt es sich dabei um nützliche Dinge wie Kleidungsstücke, wofür die frischgebackenen Eltern sehr dankbar sind. Alle Freunde und Verwandten wollen aber, daß man noch lange an sie denkt, deshalb schenken sie dem Winzling nichts in kleinen Größen. Da wäre er ja in ein paar Wochen schon wieder herausgewachsen, deshalb nimmt man doch lieber ein paar hübsche Stücke, in die er erst in ein paar Monaten oder Jahren hineinwächst. Kein Wunder, daß mein Sohn brüllt, denn er hat zur Zeit nicht ein einziges passendes Kleidungsstück, das ihm gehört. Ich versuche, ihm die freie Auswahl zwischen den von der Nachbarstochter geborgten Rüschenhemdchen und den zerfetzten unmodischen Jäckchen zu lassen, die ich schon als Kind getragen habe. Auf jede Seite vom Wickeltisch lege ich so ein Stück, und er entscheidet sich für eine Seite, indem er die ihm mühsam eingetrichterte Milch dorthin wieder ausspuckt. Trotzdem wirkt er dadurch nicht glücklicher. Auch die schäbigen Stücke vom Kirchenbasar, die ich kaufte, damit er endlich etwas Eigenes hat, machen ihn nicht froh. Vielleicht sind lilatürkise Streifen einfach nicht sein Geschmack. „Der kann doch noch gar nicht richtig sehen“, widersprechen die guten Ratgeber, die zur Zeit hinter jeder Ecke lauern, an der ich mit dem Kinderwagen vorbeischiebe. „Der kann doch noch gar nicht richtig sehen“, sage ich zu seinem Vater, als er ihm empört eine rosafarbene Latzhose mit kleinen Schleifchen dran (von der Cousine geliehen) wieder auszieht. „Aber ich“, sagt der Vater.

Kinderlose Freunde schenkten uns den „Kleinen Erziehungsberater“ von Axel Hacke. Das ist ein nützliches Buch, weil darin steht, daß es anderen Leuten auch nicht besser geht als uns. Warum ich es gleich fünfmal bekommen habe, weiß ich nicht, aber ich ahne, wieso es zum Bestseller geworden ist. Kinderlose intellektuelle Freunde schenken gar nichts zur Geburt, weil sie das Ereignis für unbedeutend halten. Sie beschließen zu warten, bis die Eltern sich wieder über richtig wichtige Sachen unterhalten können. Ich weiß nicht, ob Freundschaften zwanzigjährige Kommunikationspausen verkraften, aber versuchen will ich es gern. Gutwillige Intellektuelle erkundigen sich, was der Kleine denn noch so braucht. Eine Spieluhr? Können so kleine Babys denn schon die Uhr lernen?

Und schläft er eigentlich schon durch? Nein? Man muß nachts aufstehen? Wie unangenehm. Und was machst du mit all deiner freien Zeit, wo du doch jetzt nicht arbeiten mußt? Es führen keine Wege von meinem Paralleluniversum in die richtige Welt. Nicht mal ein Megaphon würde helfen. Trotzdem herzliche Grüße von hier.

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