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Mit Migrationshintergrund im BundestagDer Begriff Integration ist überholt

Gesellschaftliche Gruppen werden von Abgeordneten im Bundestag vertreten. Menschen mit Migrationshintergrund sind noch immer unterrepräsentiert.

Alle da? Bild: dpa

BERLIN taz | Die taz stellt vier neue Abgeordnete mit Migrationshintergrund vor:

Der Wandelbare: Charles M. Huber

Rassismus sei kein Thema mehr, sagt der CDUler, Schauspieler und Wahlhesse. Fernsehzuschauern ist sein Gesicht vertraut. Als Schauspieler spielte Charles M. Huber in der TV-Krimiserie „Der Alte“ bis 1997 dessen Assistenten. Seine neue Rolle führt ihn als Abgeordneten in den Bundestag.

Neuer Bundestag

Wenn der neue Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammenkommt, werden so viele Frauen und Abgeordnete mit Zuwanderungsgeschichte dabei sein wie nie zuvor. Von den 630 Abgeordneten sind 229 Frauen, das sind 36 Prozent. 37 Parlamentarier besitzen außerdem einen Migrationshintergrund – das heißt, sie selbst oder zumindest ein Elternteil ist nicht in Deutschland geboren.

Als die hessische CDU einen Kandidaten gegen Exjustizministerin Brigitte Zypries suchte, kam Charles M. Huber nach Darmstadt. Im Bundestag möchte er sich jetzt für seine neue Wahlheimat starkmachen – „das ist, was der Wähler erwartet“. Darmstadt brauche zum Beispiel einen ICE-Anschluss, hat er festgestellt.

Außerdem will Huber den Blick auf die Potenziale lenken, die Menschen bikultureller Herkunft mitbringen. „Länder wie Großbritannien und die USA haben dadurch Vorteile im Welthandel“, betont er. Den Begriff „Migrationshintergrund“ hält er aber für „überflüssig“, und Rassismus ist für ihn kein großes Thema. „Im Wahlkampf hat meine Hautfarbe keine Rolle gespielt“ – das zeige die Selbstverständlichkeit, die in Deutschland inzwischen herrsche, findet er.

Hubers echter Vorname lautet übrigens Karl-Heinz, und das M in seinem Künstlernamen steht für Muhammad – nach dem Boxer Muhammad Ali. Huber wurde 1956 als Sohn einer Hausangestellten und eines senegalesischen Diplomaten in München geboren, seinen Vater lernte er erst mit 28 Jahren kennen. In den 90er Jahren begann er dann, sich für Afrika zu interessieren, gründete einen karitativen Verband und betätigte sich als entwicklungspolitischer Berater. Damals wurde er Mitglied der SPD. Die gesellschaftspolitische Öffnung der Union unter Merkel sei „ein Grund, warum ich jetzt in der Union bin“, sagt Huber.

Wird Huber mit der Harley Davidson, die er sich kürzlich als Dienstfahrzeug zugelegt hat, vor dem Reichstag vorfahren? „Kann passieren“, sagt er. Aber erst im Sommer.

Der Etablierte: Özcan Mutlu

Der Bildungsexperte der Grünen will jetzt über Berlin hinaus Akzente setzen. Dank seiner häufigen Talkshow-Auftritte – etwa als Gegenspieler des SPD-Lautsprechers Heinz Buschkowsky – ist er bereits bundesweit bekannt. Doch in den Bundestag zieht Özcan Mutlu, 45, erst jetzt, im zweiten Anlauf, zum ersten Mal ein.

„Ich habe zehn Kilo abgenommen. Nicht weil der Wahlkampf so stressig war, sondern weil wir jeden Sonntag 4,5 Kilometer gerannt sind“, stöhnt Mutlu. Die Zahl 4,5 bezog sich übrigens auf die Prozentpunkte, die der Direktkandidat der Grünen im Bezirk Berlin-Mitte bei der vergangenen Wahl hinter der SPD lag.

Mutlu wollte das mit einem aufwendigen Action-Wahlkampf um den zentralen Berliner Bezirk Mitte aufholen. Dass er letztlich nur auf einem enttäuschenden dritten Platz landete, dafür macht er den Bundestrend verantwortlich. „Im bundesweiten Vergleich haben wir in Berlin-Mitte noch die geringsten Verluste eingefahren. Aber verloren ist verloren!“

Dank eines sicheren Platzes auf der Landesliste darf Mutlu dennoch in sein Büro am Boulevard „Unter den Linden“ umziehen. Es liegt nur unweit des Berliner Abgeordnetenhauses, in dem er die letzten 14 Jahre als Bildungspolitiker agierte. Seine Eltern, die vor vielen Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Berlin kamen, wollen am Dienstag dabei sein, wenn ihr Sohn erstmals im Bundestag Platz nimmt. Dort will sich Mutlu vor allem mit Innenpolitik und weiterhin mit Bildungsthemen befassen – aber auf keinen Fall mit Integration: „Ich halte nichts davon, dass Migranten aufgrund ihrer Herkunft automatisch für das Thema zuständig sein sollen. Diese Zeiten sind vorbei.“

Noch im August hatte er mit Renate Künast in einem Kreuzberger Park einen „Veggie Day“ veranstaltet und mit Katrin Göring-Eckart in einer Kita gekocht. Rückblickend gibt sich Mutlu selbstkritisch: „Man hätte vielleicht mehr über die Massentierhaltung und die Auswirkungen des Fleischkonsums aufs Klima reden müssen, als die Idee eines Veggie-Days nach vorne zu rücken.“

Der Aufsteiger: Mahmut Özdemir

Der SPDler und will sich für die Jugend einsetzen. Der zweite Herr Özdemir, der in den Bundestag einzieht, wird mit 26 Jahren dort der jüngste Abgeordnete sein. Als ganz junger Mensch weit oben zu sein, das kennt er schon: Mit 14 Jahren war er bereits Juso-Vorsitzender in seinem Bezirk. Als Berufswunsch gab er damals an, Außenminister werden zu wollen.

Aufgewachsen ist Mahmut Özdemir in einem Hochhaus in Duisburg-Homberg. Gerne erzählt er die Geschichte, wie er von dort zu den Jusos kam: Weil er von seinen Eltern, die aus der Türkei stammen, ein paar Inlineskater geschenkt bekam, aber damit vom Hof des benachbarten Baumarkts vertrieben wurde, machte er sich gemeinsam mit ein paar Freunden für einen Skaterpark in seinem Viertel stark. Dessen Bau war sein erster politischer Erfolg.

Im Bundestag möchte der SPD-Youngster „vor allem das Sprachrohr der jungen Generation sein“, wie er sagt. „Die hangelt sich von Jahresvertrag zu Jahresvertrag. Aber wer sich in solchen Beschäftigungsverhältnissen wiederfindet, der investiert nicht in die Gesellschaft, in Kranken- und Rentenkassen und der übernimmt auch kein Ehrenamt.“Und Özdemir findet auch: „Es kann nicht sein, dass Leute arbeiten gehen und es trotzdem ohne das Jobcenter nicht zum Leben reicht.“

Dass er Schröder und Müntefering, die beiden Architekten der „Agenda-Politik“, trotzdem noch immer als Vorbilder bezeichnet, darin sieht er keinen Widerspruch: „Sie haben damals versucht, Antworten auf die Fragen ihrer Zeit zu finden. Heute geht es darum, neue Antworten zu finden und die Fehler zu korrigieren, die wir gemeinsam zu verantworten haben“, sagt er.

Die Aussicht auf eine gemeinsame Regierung von SPD und CDU/CSU schreckt ihn nicht: „Wenn ich das Wahlprogramm der SPD in entscheidenden Punkten wiederfinde, dann kann ich damit leben.“ Doch er nennt auch sein Kriterium: „Es gab ein 100-Tage-Regierungsprogramm von Peer Steinbrück. Das ist der Maßstab, an dem man sich messen lassen muss.“

Die Unabhängige: Azize Tank

Es gehe um Teilhabe, sagt die Linken-Politikerin und einstige Migrationsbeauftragte. Ob sie die älteste Newcomerin ist, die in den neuen Bundestag einzieht, das weiß sie gar nicht. „Aber ich stehe zu meinem reifen Alter, ich finde das schön“, sagt die 63-jährige Azize Tank. „Und auf meinen Wahlspruch, dass das Leben auch im Alter sexy und liebenswert sein kann, habe ich sehr viele positive Reaktionen bekommen.“

Zwanzig Jahre lang war Azize Tank Migrantenbeauftragte im Berliner Bezirk Charlottenburg, 2011 ging sie in den Ruhestand. „Ich habe ein sehr bewegtes Leben“, sagt sie.

Geboren wurde sie in der Türkei, seit 40 Jahren lebt sie in Berlin. Hier engagierte sie sich in der Frauen- und Friedenspolitik. Mit ihrem Ehemann, dem Anwalt Eberhard Schultz, hat sie eine Stiftung für Menschenrechte gegründet. Ihren Töchtern hat Tank beigebracht: „Als Frau muss man doppelt so gut sein wie ein Mann, als Frau mit Migrationshintergrund dreimal so gut.“ Als unabhängige Kandidatin wurde die Frau mit den weißen Korkenzieherlocken von der Linkspartei nominiert, ein Parteibuch besitzt sie nicht. „Die Linke ist die einzige Partei, in der ich mich zu Hause fühlen würde“, sagt sie. „Aber es wäre nicht ehrlich gewesen, sofort Mitglied zu werden. Zum Glück hat das auch niemand von mir verlangt.“

Den Begriff „Integration“ hält sie für überholt: „Es geht nicht um Chancengleichheit, nicht um Anpassung“, findet sie. „Wenn Teilhabe an der Gesellschaft nicht möglich ist, kann man alles andere vergessen.“

Sie selbst wagt mit 63 Jahren noch einmal einen beruflichen Neuanfang, trotzdem will sie zur Rente mit 65 zurück: „Im Bundestag kann man auch noch mit 85 arbeiten“, sagt sie. „Aber als Dachdecker und in vielen anderen Berufen kann man das nicht.“ Im Bundestag strebt sie deshalb eine Tätigkeit im Ausschuss für „Familie und Soziales“ an. Vor allem aber will sie den Kontakt zur Basis nicht verlieren. „Ich möchte es gerne etwas anders machen als andere Politiker. Ich hoffe, das gelingt mir und mein Idealismus bleibt mir erhalten.“

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15 Kommentare

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  • L
    Leverkusen

    Ältester Neuling ist auf keinen Fall Azize Tank. Wahrscheinlich Helmut Nowak: www.leverkusen.com/nowak. Er wurde 1941 geboren

  • G
    geschnallt

    Endlich hat es einer mal kapiert. Hopfen und Malz sind noch nicht verloren.

     

    „Ich halte nichts davon, dass Migranten aufgrund ihrer Herkunft automatisch für das Thema zuständig sein sollen. Diese Zeiten sind vorbei.“

  • B
    Brandt

    @ K.I.Z. GEBILDET

     

    Da haben Sie einen überholten Gerechtigkeitsbegriff. Gerechtigkeit kann man nicht mehr als Verteilungsgerechtigkeit verstehen. Gerechtigkeit ist heute ein Dreiklang Verteilungsgerechtigkeit, Respekt und Repräsentation. Pornographische Bilderwelten in der Werbung und im Film werden durch den Feminismus nicht mehr einfach hingenommen. Ebenso werden rassistische Bilderwelten in Cartoon-Serien kritisiert. Frauen und sichtbare Minderheiten haben da einen Anspruch auf angemessene Repräsentation jenseits der Stereotype. Außerdem findet Politik in einer postwestfälischen Welt statt - eingebettet in die UNO, WTO, World Bank und IMF. Die dort gefällten Entscheidungen sind nicht demokratisch legitimiert. Migranten sind durch ihre transnationalen Bezüge gefragt in der Rolle des Warners, der die politische Öffentlichkeit vor den Konsequenzen warnt auf andere Länder. Insbesondere bei Menschenrechtsverletzungen durch Rohstoffpartnerschaften, Schmutzindustrie Outsourcing, Menschenhandel und Umweltschutz ist das transnationales Denken gefragt. Mit einer Umverteilungs-Konkurrenz um knappe Ressourcen machen nur Rechte Panik. Fakt ist Migranten sind steuerpflichtig und sollen über die Verwendung ihres entnommenden Privateigentums mit entscheiden können, sofern sie Staatsbürger sind.

  • Aha - "Menschen mit Migrationshintergrund sind noch immer unterrepräsentiert".... Im Bundestag sind noch viel mehr "Menschengruppen" unterrepräsentiert - und? Brauchen wir 26-jährige mit Inlineskater-Hintergrund, die mit 14 Jahren Juso-Vorsitzender waren (!), wirklich als politische Entscheidungsträger im deutschen Parlament? Schon das Gestammel der Familienpolitikerin Schröder vergessen? - die hatte mit 14 auch Helmut K. überm Bett zu hängen.

  • E
    Entnazifizierer

    "Rassismus sei kein Thema mehr", sagt der CDU-ler... Entweder hat der Mann keine Ahnung von der Realität, oder er ist ein Rassist mit der Maske eine Demokraten! ! Immer noch ein absolutes Tabuthema in der Mehrheitsgesellschaft, welchen mit tiefes Schweigen und verbaler Abwehr immer wieder zurückgedrängt und verdrängt wird!!!

  • P
    ProporzKnatter

    Fast 25% Beamte, über 18% Juristen (die etwa 0,8% der Bevölkerung vertreten), 8% Lehrer und nur 2 einsame Arbeiter sitzen im Bundestag. DAS ist ein Skandal - und nicht, ob Papa und/oder Mama im Proporz links oder rechts der Grenze geboren wurden.

    • @ProporzKnatter:

      Hm, aber dass im Parlament, dem Organ der Gesetz-Gebung, Leute sitzen, die Gesetze studiert haben, ist ja nun nicht so ganz abwegig...

  • Wenns hart auf hart kommt, heben auch die ihre Finger gemäß der Fraktionslinie und nicht im Sinn des Gewissens. Das gilt für Frauen, ehemalige Ausländer, einfach für Jeden, der im Bundestag sitzt. Wo ist der Sinn hinter solchen Schmalspur-Porträts?

  • bin ich integriert, oder bereits absorbiert?!

  • SW
    Schnell weg

    Möchten Sie denn gern eine Quote einführen?

    Und was ist mit der Demokratie, in der die BürgerInnen wählen?

    Wenn ich (immer seltener) die taz lese, glaube ich, dass ich im falschen Film bin.

  • G
    gerstenmeyer

    warum braucht man da eine quote?

    was steckt dahinter?

  • KG
    K.I.Z. gebildet

    Gerechtigkeit wäre es, sprächen wir über die Repräsentation der Leistungsbezieher, der Harzer, der Schwachen, im Bundestag.







    Dann müssten wir nicht über mangelnde Frauen und Migranten reden, die wären automatisch mit im Boot.







    Links sein könnte so einfach sein, aber als Hobby, da ist es kompliziert einfach "schöner"

     

    RED: Kommentar gekürzt.

    • J
      Johanna
      @K.I.Z. gebildet:

      meinten sie wirklich Harzer (so wie Harzer Käse) oder Hartzer (Menschen die ALG II bekommen)?

  • F
    Freidenker

    Das ist aber nur die halbe Wahrheit! Oder sind Hartz 4 empfänger für die Bürgerliche Mitte KEINE MENSCHEN MEHR?!

     

    Die Taz ist und war noch nie wirklich links!

  • J
    John

    "Menschen mit Migrationshintergrund sind noch immer unterrepräsentiert."

     

    Kein Problem. Wir sollten den Bundestag erweitern um ein paar Plätze speziell für Menschen mit Migrationshintergurnd, z.B. die Jungs aus der DITIB oder ähnlichen Organisationen. Die brauchen auch nicht gewählt zu werden, die sind dann immer da und können auch mitentscheiden. So sollte für Gleichbehandlung und Gleichberechtigung gesorgt sein.