Missbrauch an Heimkindern: Fürs Leben gezeichnet
Siegfried S. war ein Heimkind. Die Erfahrungen dort haben sein ganzes Leben verändert. Jetzt spricht er darüber - drastisch und schonungslos.
Eine Unachtsamkeit, wahrscheinlich. Mehr nicht. Und doch trifft sie Siegfried S., der seinen ganzen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ins Mark. Der 48-Jährige zeigt in seinem Wohnzimmer in Essen auf eine Briefmarke, die auf einem Briefumschlag klebt. Zu sehen ist der berühmte Cartoon von Loriot: ein Ehepaar und das Frühstücksei. "Ich hätte nur gern ein weiches Ei und nicht ein zufällig weiches Ei!", steht daneben. "Man hat mich trocken in den Arsch gefickt", sagt er.
Das Kuvert stammt aus dem Heim, in dem das vor mehr als 40 Jahren geschehen ist. Es enthält belanglose Unterlagen aus seiner alten Personalakte. Doch die Briefmarke mit dem Frühstücksei trifft Siegfried S. besonders: Wegen Spermatozelen, Zysten oder "Versteinerungen", wie er es nennt, mussten ihm in den vergangenen drei Jahren in 28 Operationen nach und nach die Hoden entfernt werden. "Ich habe keine Eier mehr", sagt er überdeutlich.
Siegfried S. ist als Heimkind Ende der sechziger Jahre von seiner Erzieherin unter anderem mit einem Besenstil vergewaltigt worden. Ein Zusammenhang zwischen den Vergewaltigungen vor Jahrzehnten und der Amputation, mit der er jetzt zurechtkommen muss, ist nicht nachweisbar. Ebenso wenig ist nachweisbar, dass der Missbrauch im Kindesalter zu einem Lebenslauf geführt hat, der aus den Bahnen geriet; vielleicht war alles schon vor dem Missbrauch in seiner Familie angelegt. Typisch ist sein Fall jedoch, weil ehemalige Heimkinder oft ihr Leben lang unter den Misshandlungen und den Akten des Missbrauchs leiden, die ihre Kinderseelen zerstörten.
Nie eine Ausbildung
Überdurchschnittlich viele frühere Heimkinder haben nie eine ordentliche Ausbildung genossen. Dirk Friedrich, zweiter Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), erzählt von andauernder Stigmatisierung der früheren Heimkinder und von Altersarmut, die viele betreffe. Während in den vergangenen Monaten die Missbrauchsopfer vor allem aus der katholischen Kirche oder aus der noblen Odenwaldschule viel mediale Aufmerksamkeit erhielten, ging der Skandal um die ehemaligen Heimkinder fast unter. Es ist, als ob die früheren Schmuddelkinder weiter in den Schmuddelecke schmorten. Menschen, die fast nie eine Chance hatten.
So ähnlich war das bei Siegfried S. Der Mann mit dem kantigen Gesicht und dem breiten Kreuz wächst in einem harten Umfeld in Essen auf, "eine total verkommene Dreckswohnung-Gegend", so beschreibt er sie. Es ist das Viertel um den Reckhammerweg, ein sozialer Brennpunkt, wie man heute sagen würde. Der Vater ist Hilfsarbeiter und Kellner, die Mutter Hausfrau. Beide trinken regelmäßig. Der Vater prügelt seine Kinder, wenn er ihrer nicht mehr Herr wird. Er schlägt auch seine Frau. Das Paar ist sich in Hassliebe verbunden, zweimal lassen sich die beiden scheiden, dreimal heiraten sie wieder.
Über 700.000 Mädchen und Jungen waren in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, etwa in der Zeit von 1945 bis 1975, in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen und Erziehungsheimen untergebracht. Von ihnen leben noch rund 500.000. Circa 30.000 haben davon berichtet, misshandelt oder missbraucht worden zu sein. Überdurchschnittlich viele frühere Heimkinder haben nie eine ordentliche Ausbildung genossen.
Eines Nachts im Jahr 1968 taucht plötzlich die Polizei auf und zerrt die verstörten Kinder ins Heim: Siegfried wird mit seinem älteren Bruder zum evangelischen Martinswerk Dorlar im Sauerland gebracht, eine jüngere Schwester und ein jüngerer Bruder kommen in ein anderes Heim. Alle Kinder sind völlig verwahrlostet und "total verlaust", sagt Siegfried S.
Was eine Wende zum Besseren hätte werden können, gerät für Siegfried S. sehr schnell zum Albtraum. Eine ältere Erzieherin hat es auf ihn abgesehen, schon nach zwei Wochen prügelt sie ihn wegen kleinster Vergehen windelweich. Er erinnert sich an den Vorratskeller mit der hellgrauen Metalltür, wo sein Martyrium stattfand. Zuerst gab es Schläge mit Stöcken auf den nackten Hintern. Doch bald steckt ihm die Erzieherin auch "Gegenstände in den Arsch", wie Siegfried S. in der Direktheit des Ruhrpottlers sagt. "Bitter und schmerzhaft" sei das gewesen, sagt er, "stumpf und abartig". Die Erzieherin habe seinen Pobacken regelrecht auseinandergerissen. "Vielleicht wollte sie gucken, ob ich Außerirdische drinhabe", sagt er zynisch. Geschrien habe er nie, sagt Siegfried S., "diese Genugtuung wollte ich niemandem geben".
Die Vergewaltigungen erfolgen regelmäßig, alle zwei Wochen samstags "vor ,Raumschiff Enterprise'", so erinnert sich Siegfried S. Danach muss er die Erzieherin vor dem gemeinsamen Fernsehglotzen mit anderen Jugendlichen massieren: den Rücken und die Füße, sie gönnt sich ja sonst nichts. Es gibt keine innere Logik hinter den Misshandlungen und dem Missbrauch: Siegfried S. wird "bestraft", wenn er nichts getan hat - und kann zugleich ungestraft Milky-Way-Schokoriegel klauen. Auch deshalb, sagt er heute, habe er nie so etwas wie ein Rechts- oder Unrechtsempfinden gelernt. Vor den Eltern, die ihn regelmäßig unter Aufsicht besuchen, "hielt ich lieber die Fresse". Es war klar: "Wenn ich was sage, gibt es noch härtere Konsequenzen."
Während eines längeren Aufenthalts der Heimkinder im Tessin versucht Siegfried S. sich umzubringen. Er hängt sich mit einer Schlinge um den Hals in einer Umkleidekabine an einen Haken. "Dann haste den ganzen Scheiß hinter dir", so erinnert er sich an seine Gedanken zuvor. "Hat leider nicht geklappt." Irgendjemand findet ihn rechtzeitig und rettet ihm das Leben - er weiß bis heute nicht, wer es war.
Mit 16 Heroin
Nach vier Jahren ist seine Leidenszeit im Heim zu Ende - aber Siegfried S. ist für sein Leben gezeichnet. Er geht nicht mehr zur Schule, hängt rum, klaut. "Ist sowieso alles meins", denkt er sich. Der Vater prügelt ihn, weil ihn ständig die Polizei nach Hause bringt. Mit 14 Jahren kommt er erstmals in den Knast, mit 16 Jahren nimmt er das erste Mal Heroin. Er habe "immer die Chance der Bewährung" gehabt, räumt er ein, "das will ich nicht abstreiten. Aber ich habe Scheiße daraus gemacht." Er flieht aus Heimen, wird von einem Jugendknast in den nächsten verlegt. Siegfried S. dealt auch mal mit Heroin, geht zeitweise anschaffen. "Das war mir sowieso alles egal, weil ich mir gedacht habe: Da waren schon ganz andere drin."
Zwischendrin, 1985, heiratet er eine junge Frau, die er im Schwimmbad kennengelernt hat. Sie haben einen gemeinsamen Sohn, zu dem er heute aber keinen Kontakt mehr hat. Das Paar trennt sich, als Siegfried S. merkt, dass sie ihn mit seinem besten Freund betrügt. Mehrmals versucht er, sich den goldenen Schuss zu geben. Es klappt nie. Wegen eines Einbruchs in einer Apotheke, bei der er auch Bargeld klaut, wandert Siegfried S. schließlich wegen schweren Raubs für mehr als fünf Jahre ins Gefängnis. Insgesamt hat er rund zehn Jahren hinter Gittern verbracht. Ins Gefängnis lässt er sich von seinem Vater Haschisch schmuggeln. Das in Plastikkügelchen verpackte Rauschgift schluckt er, um es dann auf der Toilette aus seinem Stuhl zu pulen.
Nach der Entlassung scheint der Lebensweg von Siegfried S. 1995 eine positive Wendung zu nehmen; er lernt eine Versicherungsfachangestellte kennen, in deren Wohnung er noch heute wohnt. Er wird Maschinenführer in einem Brunnenfachbetrieb, füllt Sprudel ab, rund elf Jahre läuft alles gut. Dann wird seine Krankheit diagnostiziert, die schließlich mit der Amputation der Hoden endet. Seinen Job hat er unterdessen verloren.
Im Krankenhaus hat Siegfried S. eine Art Vision. Er redet nur in Andeutungen darüber, spricht von einer "total spirituellen Erfahrung". Er habe sich in so etwas wie einer Parklandschaft mit Brunnen befunden, ein Mann habe mit ihm über alles geredet, stundenlang, wie es ihm schien. Seitdem redet er fast schwärmerisch von Jesus. Aus der Kirche war er ausgetreten, sobald er 18 Jahre alt war.
Anfang September lädt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) für einen Sonntagnachmittag zu einer Veranstaltung über die "Evangelische Heimerziehung" im Französischen Dom auf dem Gendarmenmarkt in Berlin. Der EKD-Ratsvorsitzende Präses Nikolaus Schneider bittet dabei ganz offiziell "die betroffenen Heimkinder für das in evangelischen Heimen erfahrene Leid um Verzeihung".
Nicht ausgehalten
Siegfried S. hält die Veranstaltung nicht aus. Empört verlässt er zeitweise den hellen Sakralraum. Nach der Veranstaltung spricht er Präses Schneider an, sagt ihm, dass er am liebsten mit einer 45er die Reihen in der Kirche lichten würde. Und er erzählt ihm von der Briefmarke. "Wir bleiben am Ball", habe ihm der EKD-Ratsvorsitzende gesagt, berichtet Siegfried S. In der EKD will man das Gespräch im Französischen Dom mit Verweis auf die Verschwiegenheitspflicht bei privaten Gesprächen nicht kommentieren.
Wie viele Heimkinder will Siegfried S. keine Therapiekostenhilfe mehr, sondern möglichst schnell eine Entschädigung von der evangelischen Kirche. Aber bisher tut sich da nichts. In seinem Wohnzimmer kramt er ein Antragsformular der katholischen Kirche für Missbrauchsopfer hervor. "Suchen Sie das mal bei den Evangelischen", sagt er, "finden Sie nicht." Nach dem stundenlangen Interview ist Siegfried S. erschöpft. Er kann nicht mehr sitzen, wegen der Operationen. Er muss Antibiotika nehmen, alles ist entzündet und "ständig heiß". Aber Siegfried S. kämpft. Er hat nichts zu verlieren. Und er will nicht mehr schweigen.
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