Minarettverbot in der Schweiz: Grüezi, Herr Muezzin
Die Zustimmung zum Minarettverbot legt einen ideologischen Riss innerhalb der Schweizer Bevölkerung offen. Die Mehrheit hat mit Ja gestimmt, aber wo ist sie?
Im Zürcher Kreis 4, einem Stadtteil, wo Galerien und Bordelle sich abwechseln, Studenten und Drogendealer sich grüßen und die Straßen am Sonntagvormittag wie leergefegt sind, wird der Schock nur langsam verdaut. Hier leben Intellektuelle, Linke, Migranten, Kreative. An den Türen der Puffs stehen zu jeder Tageszeit ausländische Prostituierte, neben Taxiständen verkaufen Dealer Drogen an Partybesucher, in den Cafés sitzen teuer gekleidete Kunststudenten. Szeneclubs sind von Rotlichtlokalen kaum zu unterscheiden. Toleranz ist hier nicht nur selbstverständlich, sie ist der vorherrschende Lebensstil.
Kein Wunder also, dass viele hier wie im restlichen Zürich die Anti-Minarett-Initiative unterschätzt haben. Manche waren so überzeugt, dass die Kampagne chancenlos sei, dass sie ihre Stimme gar nicht erst abgegeben haben. "Da gehe ich einmal nicht abstimmen und prompt wird die Minarett-Initiative angenommen!", schreibt eine Schweizer Bloggerin am Sonntag. Wie ihr ging es vermutlich vielen. Im Voraus hatten alle Prognosen ein Scheitern der Initiative vorausgesagt. Das dürfte manch einen Gegner dazu verleitet haben, sich wieder die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, anstatt ins Wahllokal zu gehen - auch wenn die Wahlbeteiligung mit 54 Prozent verhältnismäßig hoch war.
Im Internet machen sich Ärger, Entsetzen und Scham der Gegner breit. Schon wenige Stunden nach den ersten Hochrechnungen sind zahlreiche neue Gruppen im sozialen Internetnetzwerk Facebook gegründet worden, mit Namen wie "Ich baue ein Minarett auf meinem Balkon" - den Bastelbogen dazu kann man sich ausdrucken - oder "Minarett-Initiative (2009): Ich habe NEIN gestimmt!" Wie emotional für viele das Thema ist, zeigt auch die rasend wachsende Facebook-Gruppe "Ich schäme mich für das Resultat der Minarett-Initiative!" Mehr als 40.000 Mitglieder hat diese Gruppe nach nur einem Tag. Auf der Seite wird dazu aufgerufen, seinen Protest mit dem Tragen einer weißen Armbinde auszudrücken. Für das kommende Wochenende werden Demonstrationen in Zürich und Bern angekündigt. Eine andere Gruppe, "Grüezi, Herr Muezzin" genannt, fordert seine Mitglieder auf, sich im Internet muslimische Muezzingesänge herunterzuladen, abends um sieben das Fenster aufzumachen und die Boxen der Stereoanlage aufzudrehen.
Neben den virtuellen Protesten organisierten die Bewohner des Kreises 4 und ihre Sympathisanten nur wenige Stunden nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse eine spontane Demonstration. Per SMS und Internet riefen die Organisatoren dazu auf, sich mit Baumaterial auf einem zentralen Platz einzufinden. "Im Kreis 4 wurde klar Nein gesagt, gleichzeitig ist der Kreis 4 einer der multikulturellsten Orte in der Schweiz. Das zeigt, dass es eine irreale Angst ist", sagte der grüne Gemeinderat Balthasar Glättli, der auch zur Kundgebung kam, dem Tages-Anzeiger. Mehrere hundert Demonstranten hielten eine Mahnwache ab und bastelten anschließend aus Pappe, alten Möbeln und Klebband mehrere Meter hohe minarettähnliche Türme.
Die Verlierer des Abstimmungskampfes sind nicht zu überhören, wo aber bleiben die Stimmen der Gewinner, immerhin die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung? Bis auf die Politiker, die die Initiative gestartet haben, freut sich niemand öffentlich über das Ergebnis. Vermutlich aus demselben Grund, der schon zu den falschen Prognosen geführt hat: aus Scham. "Das Phänomen der sozialen Erwünschtheit hat zugeschlagen: Die Leute trauen sich nicht, ihre wahre Meinung zu sagen, wenn sie das Gefühl haben, das sei unkorrekt oder werde vom Befrager abgelehnt", sagt der Zürcher Politologe Michael Hermann.
Die meisten Schweizer leben nicht im Zürcher Kreis 4, sondern in einer Kleinstadt wie Liestal in der Nähe von Basel mit 13.500 Einwohnern. Dort trafen sich die Frauen der Schweizerischen Volkspartei (SPV) im vergangenen Sommer zu einer Veranstaltung mit dem Titel "Die Frau im Islam". In einem frisch renovierten Plenarsaal hörten sich Frauen mittleren Alters bei Kaffee und Kuchen den Vortrag der deutschen Islamwissenschaftlerin Gabriele Berrer-Wallbrecht an. Sie erklärte ihren Zuhörerinnen mithilfe eines Flipcharts, warum der Einfluss des Islams auf die Schweiz gefährlich sei: "Es darf keine Ehrenmorde geben, es darf keine Zwangsheirat geben, keine Genitalverstümmelung, es darf kein Kopftuch an Schulen getragen werden", erklärte sie. Anschließend sagten sehr fröhliche, sympathische Gesichter in das Mikrofon eines Journalisten, dass ihnen dieser Nachmittag neue, interessante Argumente für das Verbot von Minaretten geliefert hätte. Dass es da um völlig unterschiedliche Dinge ging, schien niemandem aufzufallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen