Militärisches Großmanöver in Russland: Wirrwarr wegen „Weischnoria“
Das beginnende Großmanöver „Sapad 2017“ beunruhigt nicht nur die Nachbarn. Es enthüllt auch Moskauer Merkwürdigkeiten.
Im Manöver-Drehbuch des russischen Generalstabs ist „Weischnoria“ einer von drei Staaten an der belorussischen Westgrenze, die es auf Destabilisierung bei den östlichen Nachbarn abgesehen haben. Nach der Ukraine, deren Revolution 2014 nach russischer Sicht vom Westen angefacht wurde, wollen Aufrührer in diesem Planspiel nun auch das Regime in Minsk zu Fall bringen. Wo sie herkommen, ist klar: An der belorussischen Westgrenze liegt Polen.
Offiziell sind am Manöver „Sapad“, das vom 14. bis 20. September laufen soll, 12.700 Soldaten beteiligt: 7.200 Weißrussen und 5.500 Russen, von denen 3.000 auf weißrussischem Gebiet eingesetzt werden. Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass diese Zahlen des russischen Außenministeriums dem tatsächlichen Umfang entsprechen. Denn auch in der russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee, in Pskow, im Leningrader Verwaltungsgebiet bis hin zur Halbinsel Kola im hohen Norden sind Übungen vorgesehen – Maßnahmen, die Russlands Militärs als Parallelveranstaltungen deklarieren, die nicht dem Manöver zuzuordnen seien.
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach letzte Woche in Estland von insgesamt etwa 100.000 Soldaten, die zum Einsatz kommen könnten. An früheren Truppenübungen „Zentr 2015“ und „Kawkas 2016“ waren ebenfalls so viele Soldaten beteiligt. Indem die Parallelveranstaltungen aus dem offiziellen Umfang von „Sapad“ herausgerechnet werden, bleibt das Manöver offiziell unter der Grenze von 13.000 teilnehmenden Soldaten, ab der Moskau nach dem Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 ausländische Beobachter über einen längeren Zeitraum zulassen müsste. Russland hat zwar Vertreter der Nato und OSZE eingeladen, doch nur für einen Tag. Minsk sprach Einladungen für fünf Tage aus.
Schikane? Oder will Moskau etwas verbergen? Der russische Militärexperte Alexander Golts vermutet Letzteres: Seit Jahren würden im russischen Militär immer neue Einheiten geschaffen, die Anzahl der Soldaten bliebe aber konstant. Das könne nur bedeuten, „dass die neuen Divisionen unvollständig und noch nicht verteidigungsfähig sind. Das möchte man vor ausländischen Beobachtern vielleicht verbergen.“
Vorübung für Besetzung der Nachbarn?
Frederick Hodges, Oberbefehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa, warnte unterdessen vor einem „trojanischen Pferd“. Was als Verteidigungsmaßnahme deklariert wurde, könnte auch eine Vorübung der russischen Streitkräfte sein, um das Baltikum und Polen zu besetzen, so der General.
Die Nervosität ist begründet. 2014 nutzte Russland ein Manöver an der Grenze zur Ukraine, um die Einnahme der Halbinsel Krim vorzubereiten und den Donbass zu besetzen. 2008 bot eine Großübung im russischen Kaukasus das Vorspiel für den Überfall auf Georgien.
Gerüchte kursieren diesmal, Moskau könne nach dem Manöver beim Bundesgenossen Weißrussland Truppen und Waffen für den Ernstfall zurücklassen. Die Ukraine fürchtet, Russland könnte mit Grenzverletzungen provozieren und Minsk zwingen, S-400-Luftabwehrraketen aufzustellen. Moskau würde dann den gesamten ukrainischen Luftraum beherrschen.
Ruhig reagieren die baltischen Staaten, die zur Nato gehören. Der estnische Untersekretär für Verteidigung, Kristjan Prikk, hält „Sapad“ weder für Estland noch die Nato für eine Bedrohung. Auch sieht er darin keinen Angriffsvorwand.
US-Militärexperte Michael Kofman vom CNA (Center for Naval Analyses) rückt überdies die Dimensionen zurecht. Es entstünde der Eindruck, dass 100.000 kampfbereite Soldaten an der Grenze zur Nato stünden. Tatsächlich seien die Truppen über ein großes Gebiet verteilt. Und auch der Katastrophenschutz, der Geheimdienst, die Baltische Flotte und anderes gingen in die Zählung ein.
„Sapad“ eröffne dennoch einen tiefen Einblick in die Bedrohungsängste der russischen Militärs, meint Kofman. Und für Russland hat sich das Präludium des Manövers schon ausgezahlt: Es wird ängstlich darüber gesprochen. Moskau flößt Furcht ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis