piwik no script img

Milchgesicht tötet Ball

Der von einer langwierigen Knieverletzung genesene Ronaldo findet beim 2:1 gegen die Türkei zu alter Klasse. Auch wenn die Puste noch nicht fürs ganze Spiel langt, baut Brasilien auf seine Künste

aus Ulsan RALF ITZEL

Ronaldo machte nach seiner Auswechslung noch ein paar Kniebeugen. Die Fitness ist ja noch zu steigern, da sind ein paar Extraschichten nur gut. Immer wieder schnellte er aus dem Sitz, wenn die Kollegen dem Siegtreffer entgegenstrebten. Gut für die Oberschenkel, solch eine Übung. Beim Elfmeterpfiff steigerte er sich. Vor Begeisterung sprang er von der Ersatzbank wie aus einem Startblock. Juninho hüpfte ihm auf den Rücken zum fröhlichen Huckepack. Rivaldos Schuss ins Schwarze war das Signal. Keiner, der ihm vor Freude nicht auf den Glatzkopf hauen durfte, sein Nacken wurde zum Stoßdämpfer. Die Brasilianer haben ihren Glücksbringer wiedergefunden.

Ronaldo Luiz Nazario de Lima ist zurück. Es war nicht nur der Treffer in der 47. Minute, sein fünfter bei einer Weltmeisterschaft nach deren vier beim letzten Championat in Frankreich. Es waren die Antritte und die Drehungen, die Übersteiger und die Dribblings, die Direktablagen und die Finten obendrein – und es war auch die Reaktion der Zuschauer im Stadion: Sie kreischen wieder, wenn der Ballkiller mit dem Milchgesicht die Kugel Richtung Tor treibt. Natürlich bremst ihn in den Zweikämpfen noch die Angst vor einer neuerlichen Knieverletzung. Sein Glück, dass ihn der Schiedsrichter zu schützen verstand und die Türken nicht zu arg traten. In Topform ist die Härteverträglichkeit die große Stärke, wie Frankreichs Verteidiger Lilian Thuram einmal schön erklärte: „Die meisten Angreifer hassen die körperliche Herausforderung, die Kollision mit dem Gegner. Er sucht sie, um sich abzustoßen und durch seine Schnelligkeit abzuhauen.“

Auch der Antritt ist noch nicht so galaktisch wie in der Glanzzeit Mitte der Neunziger, als er im blau-granatroten Trikot des FC Barcelona einmal die komplette Mannschaft von Compostela umkurvte und einen Treffer zelebrierte, den die Welt so seit Maradonas Tor gegen England 1986 nicht erleben durfte. Gegen die Türkei hat Ronaldo 60, vielleicht 70 Prozent seines Potenzials ausgeschöpft, diese Meining vertrat sein Trainer Felipe Scolari, der froh darüber war, „das Gespenst des Fehlstarts“ verjagt zu haben. „Ich fühle eine große Freude, die Freude des brasilianischen Volkes. Nun werde ich diese Freude auch den Spielern übermitteln, damit sie noch mehr Vertrauen gewinnen“, sagte der Coach.

Ronaldo ist noch nicht ganz der Alte, aber er kann es wieder werden. Allein das ist eine wunderbare Neuigkeit. Fast vier Spielzeiten Misere liegen hinter ihm. Im Grunde genommen hat er das Lachen, das er bei der WM wiederfinden könnte, bei der WM in Frankreich verloren. Er reiste schon knieverletzt an, allein entzündungshemmende Spritzen trugen ihn bis zum Finale. Doch in der Nacht davor streikte der Körper, Zuckungen schüttelten ihn wie einen Epileptiker. Warum er trotzdem auflief, ist nie ganz geklärt worden. Nach dem verlorenen Finale gegen die Franzosen schien er sich zu erholen, doch im November 1999 riss ein Band im Knie. Der beste Fußballer der Welt war zerbrechlich wie Kristall, schien verheizt worden zu sein von geldgierigen Trainern und Agenten.

Schon mit 14 absolvierte der Junge vom armen Stadtrand Rios in der ersten Mannschaft von Sao Cristovao mehr als 60 Spiele pro Jahr. Cruzeiro Belo Horizonte, der PSV Eindhoven, der FC Barcelona und Inter Mailand forderten immer mehr von ihm. Nach den vielen Knieoperationen durchkreuzten Rückschläge seine Come-backs, Ronaldos Tränen gingen um die Welt. Jetzt sind sie endlich wieder zu sehen, die beiden großen Schneidezähne. Lächelnd zeigt sie der 25-Jährige nach einem Satz, den er in die Mikrofone der Fernsehleute spricht: „Ich hab mich ganz gut gefühlt heute. Körperlich bin ich natürlich noch nicht so stark wie die anderen, aber so ab dem vierten Spiel könnte ich wieder voll in Form zu sein“, sagte er. Die Fußballfreunde weltweit und die Kollegen wünschen es ihm. Auch die aus der türkischen Mannschaft. Nach dem Schlusspfiff liefen vier, fünf zu ihm hin und beglückwünschten ihn. Klubkollege Emre schnappte sich das Trikot, die anderen tätschelten seinen Glatzkopf. Ronaldo bringt Glück, selbst dem Verlierer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen