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Migration in den MedienFlüchtlinge als Quotenbringer

Beim Internationalen Journalismusfestival in Perugia ging es um den Umgang europäischer Medien mit dem Thema Flucht.

Flüchtlingsboot vor Libyen Foto: ap

Perugia taz | Alle Kinostühle sind besetzt, die Zuspätkommenden pferchen sich auf dunkle Holzbänke. Ganz Perugia, so scheint es, ist in den prunkvollen, mit Fresken übersäten Sala dei Notari gekommen, um zu hören, was der Lampedusa-Arzt Pietro Bartolo, die UNHCR-Südeuropa-Sprecherin Carlotta Sami und eine Handvoll JournalistInnen zum Thema Migration zu sagen haben. Diskutiert wird lautstark auf Italienisch, im Publikum sitzen mehr Einheimische als JournalistInnen.

Vergangene Woche fand im italienischen Bergstädtchen Perugia das 11. Internationale Journalismusfestival statt. Flucht, einer der Festival-Schwerpunkte, lässt hier niemanden kalt. Kein Wunder, schließlich starben im Vorjahr mehr als 5.000 Menschen im Mittelmeer, im Jahr davor waren es etwa 3.800.

Im Gegensatz zu Deutschland ist die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Italien noch gestiegen: 2016 flohen laut UNO-Flüchtlingsprogramm mehr als 181.000 Menschen über den Seeweg nach Italien, fast ein Viertel mehr als zuvor. 14 Prozent der neu ankommenden Flüchtlinge minderjährig und unbegleitet.

Anderes Panel, gleiches Thema. Laut einer Studie der Medienbeobachter Osservatorio di Pavia erschienen in italienischen Zeitungen innerhalb von zehn Monaten 1.622 Artikel über Migration, an nur zwölf Tagen gab es keine Titelstory zum Thema. Die ARD hat mit 10 Prozent der Sendezeit im Vergleich zu anderen öffentlichen Sendern am meisten über Migration berichtet, aber nur 13 Prozent der Berichte enthielten Hintergrundinformationen. Kriminalität und Sicherheit in der Schlagzeile sollen wohl Quoten bringen. Herkunft und Fluchtmotive kommen kaum vor – zieht halt weniger. Berichtet wird über Afghanistan, Irak, Syrien, Nordafrika und das Horn von Afrika.

Was ist mit der Ethik?

Einen Höhepunkt gab es mit fast 500 Berichten im September 2015. Die Veröffentlichung des Fotos des toten syrischen Jungen Aylan habe das öffentliche Bewusstsein erhöht und politische Entscheidungen beeinflusst, sagt Studienautorin Paola Barretta: „Nachdem das Foto publiziert wurde, berichteten die Tagesthemen, dass Deutsche an die österreichische Grenze fuhren, um Flüchtlingen zu helfen.“

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Vielleicht. Trotzdem sollten die Medien es mit den Schockbildern nicht übertreiben. Sonst lauert die Gefahr, dass die Leserschaft abstumpft. Sowieso: die Ethik. Angemessen vorzugehen ist kompliziert, besonders wenn es um Flucht geht.

Man muss jedes Gespräch optimistisch beenden. Auch wenn es nach Hollywood klingt, das ist unendlich wichtig

US-Journalistin Jina Moore

In der Regel läuft es so: NGOs vermitteln eine Person, die zum Interview bereit ist und exemplarisch für viele stehen soll. JournalistInnen tun dann oft das, was in der Sozialarbeit als No-Go gilt: Sie stellen dem Flüchtling, meist ohne Anlaufphase, explizite Fragen zur Flucht. Haben sie genug Material für ihre Story beisammen, geht es zurück an den Schreibtisch, schließlich naht die Deadline.

Oft bleibt ein fahler Nachgeschmack. Müsste man denn nicht mehr tun, wenn man die Welt verbessern will? Bei den meisten JournalistInnen läuft es ja so: akribisch recherchieren, Überstunden machen und Yoga ausfallen lassen – geht immer. Aber geflüchteten Menschen, die an posttraumatische Belastungsstörungen leiden, wirklich helfen – puh. Das ist schließlich nicht die primäre Arbeit von JournalistInnen, dafür gibt es TherapeutInnen. Ja, schon. Aber die Grenzen verschwimmen.

Viele Flüchtlinge werden etwa auf ihrem Weg nach Europa vergewaltigt, eine der traumatisierendsten Erfahrungen, die man im Leben machen kann. Darüber zu sprechen ist sehr schmerzhaft. Es kann sein, dass Überlebende jene Emotionen, die sie zur Zeit des Übergriffs spürten, beim Nacherzählen noch einmal durchleben.

Was also ist die Lösung? „Ich rate dazu, den ganzen Menschen zu sehen. Man muss sich bewusst machen, dass sie mehr sind als ihr Trauma“, sagt die US-amerikanische Journalistin Jina Moore. Sie rät dazu, Fragen abseits der Flucht zu stellen, immer wieder Konsens einzuholen, Wege frei zu halten und auf die Körpersprache des Interviewpartners zu achten, der am besten nicht gegenübersitzt, da dies an unangenehme Situationen wie jene im Asyl-Interview erinnern kann.

Sensibilität bei Interviews mit Traumatisierten

Moore berichtet seit zehn Jahren über Refugees, meistens aus Afrika. Einmal hat sie in nur drei Tagen 25 Frauen in Sierra Leone interviewt, die von Soldaten versklavt und zu Sex- und Hausarbeit gezwungen wurden. „Ihnen nach dem Interview zu sagen ‚Danke, ich habe, was ich brauche‘, hat sich schrecklich angefühlt“, sagt Moore. Sie wurde Stipendiatin des Dart Centre for Journalism & Trauma, eines Projekts der Journalistenschule an der Columbia University in New York, wo sie sich intensiv mit dem Thema Trauma in der Berichterstattung befasste.

Seit drei Jahren ist Moore Reporterin bei BuzzFeed und seit Kurzem in Berlin. Die Redaktion gehe mit großer Sensibilität an das Thema heran, versichert Moore. Ausgerechnet das Onlinemedium mit den reißerischen Schlagzeilen, mit Spezialisierung auf Listen, ist also besonders taktvoll?

Nach Wohlfühljournalismus klingt jedenfalls Moores „goldene Regel“ für Interviews mit Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben: „Man muss jedes Gespräch optimistisch beenden. Auch wenn es nach Hollywood klingt, ist das unendlich wichtig. Das Positivste, das mir die Menschen sagen können, ist meist: Sie hoffen, die Zukunft werde anders aussehen als die Vergangenheit.“

Und wie verhandeln italienische Medien Flucht und Migration? „Das Thema ist unpopulär, die Italiener sind Migration nicht gewöhnt“, sagt Steve Scherer, der seit zwanzig Jahren für die Nachrichtenagentur Reuters aus Rom berichtet. Der britische Journalist kritisiert, italienische Medien würden die Aussagen von Politikern ungefiltert wiedergeben, er vermisst eine tiefergehende Analyse. Die einzige gute Berichterstattung über Migration im Speziellen und Politik im Allgemeinen gebe es, so Scherer, in der Zeitung Avvenire, die vom Vatikan herausgeben wird.

Mit der „Carta di Roma“ hat Italien seit 2011 einen Verhaltenskodex zur Berichterstattung über Migration. Da gibt es zum Beispiel ein Glossar, das zwischen Asylsuchenden und Flüchtlingen streng unterscheidet.

Der Fernsehsender al-Dscha­sira pfeift auf solche Definitionen. „Wir unterscheiden nicht zwischen Migranten und Flüchtlingen. Wir finden, es braucht keinen Krieg, um Flüchtling zu sein, wir nennen alle Flüchtlinge“, sagt Yasir Khan, Al-Dschasira-Reporter in Katar. „Oder Menschen, denn das ist es, was sie sind.“

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1 Kommentar

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  • Schön, dass Al-Dschasira den Begriff Flüchtling so großzügig auslegt, Katar aber so gut wie keine Flüchtlinge aufnimmt. Dann wäre es doch genauso schön, wenn Al-Dschasira sich dafür einsetzen würde, dass mehr Migranten aus Syrien nach Katar kommen dürfen. Der Staat kann es sich leisten!

     

    Möglicherweise würde Al-Dschasira als Staatssender weniger freundlich schreiben, wenn Katar auch nur relativ zur Einwohnerzahl die Migrationsquoten von Italien zu bewältigen hätte. Und zwar mit sozialer Integration und ohne Ausländerghettos. Was man von der Umma so erwarten kann.

     

    Dass Al-Dschasira sehr empathisch über Flüchtlinge schreibt, so lange die Leute in Richtung Europa unterwegs ist, ist Heuchelei, aber nachvollziehbar. Dass die Taz ihren Lesern diese Heuchelei als Ideal präsentiert, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar.