Migranten an Ungarns Grenze: Vor den Zäunen
Migranten wollen über die serbisch-ungarische Grenze in die EU kommen. Menschen wie Nicolai Kißling versuchen zu helfen, können aber nur wenig tun.
H awaou sitzt auf ihrer Jacke auf einer vom Regen durchweichten Wiese. Hinter ihr ragen heruntergekommene Häuser, alte Stallanlagen und einige Zelte in den bewölkten Himmel. Einige hundert Meter vor ihr fahren vereinzelt Autos auf einer Schnellstraße vorbei. Und knapp einen Kilometer hinter dieser Straße verläuft die serbisch-ungarische Grenze. Dahinter beginnt die Europäische Union. Hawaou stammt aus dem afrikanischen Guinea und möchte in die EU. Ihre erst Station wäre Ungarn. Doch da gibt es diesen meterhohen, mit Stacheldraht gesicherten Grenzzaun.
Hawaou trägt eigentlich einen anderen Namen, doch sie möchte nicht, dass der in der Zeitung steht. Sie sei schon einmal in Ungarn gewesen, erzählt sie. Anfang November sei das gewesen, und sie habe es bis nach Budapest geschafft. Aber dort angekommen, wurde sie von ungarischen Beamt:innen aufgegriffen und zusammen mit anderen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zurück nach Serbien gebracht.
Jetzt harrt sie in der provisorischen Unterkunft zwischen der serbischen Schnellstraße und dem Grenzzaun aus und bereitet sich auf ihren nächsten Grenzübertrittsversuch vor. „Der Weg ist wirklich nicht leicht“, sagt sie leise und kopfschüttelnd. Ihr Reisegefährte – ein junger Mann, ebenfalls aus Guinea – nickt dazu bekräftigend.
Nach Schätzungen von internationalen humanitären Organisationen hausten zu Beginn dieses Winters rund 3.500 Menschen in inoffiziellen Camps im Norden Serbiens. Über 5.000 lebten in den offiziellen Camps des Landes. Weil diese Camps teils kilometerweit im Landesinneren liegen, entscheiden sich viele der Migranten für die inoffiziellen Lager. Von dort aus sind die nächsten Grenzen zur Europäischen Union – die ungarische, die kroatische und die rumänische – zu Fuß erreichbar.
Ein Leben unter untragbaren Zuständen
Auf dem Feldern in der Nähe der Kleinstadt Horgoš, wo Hawaou Unterschlupf gefunden hat, leben etwa 500 Menschen. Hawaou sticht aus der Menge heraus, denn sie scheint die einzige Frau unter Hunderten Männern zu sein. „Für mich als Frau ist es besonders schwer hier“, erzählt sie. „Es gibt kaum Privatsphäre. Ich kann mich nicht unbeobachtet waschen und ich habe auch keinen Zugang zu Hygieneprodukten für Frauen.“
In einigen Räumen sind Decken und ungenutzte Kleidung zu einem notdürftigen Schlaflager ausgebreitet. Um die Gebäude herum stehen Zelte, in denen weitere Menschen unterkommen. Auf der umliegenden freien Fläche sind Feuerstellen zum Kochen von Speisen entstanden und Plätze zum Waschen. Ein nur durch Gestrüpp abgetrenntes Areal dient als Toilette. Strom und fließend Wasser gibt es nicht. Überall liegt der Müll herum, in manchen Ecken des Areals wird er verbrannt. Immer wieder wabert der süßliche Gestank von brennendem Kunststoff über die Wiese.
„Hygienisch sind das schon schwierige Zustände in den Behausungen“, urteilt Nicolai Kißling, ein deutscher Arzt, der medizinische Unterstützung für Schutzsuchenden in den inoffiziellen Camps im Norden Serbiens leistet.
Nur wenige Kilometer entfernt leben Akram und seine Familie in einem aus blauer Plastikplane und Ästen gebauten Zelt. Sie sind vor dem Krieg in Syrien geflüchtet, sagen sie. Ihr Weg hat sie über die Türkei und Bulgarien bis nach Serbien gebracht. Ihr Ziel ist Frankreich. Sie haben dort Verwandte und möchten ihren Kindern ein besseres, ein angstfreies Leben ermöglichen, erklärt der Familienvater – auch er trägt in Wirklichkeit einen anderen Namen.
Die drei kleinen Kinder laufen und hüpfen um die umstehenden Zelte herum, während die Mutter in einem Topf Reis rührt, der auf einem improvisierten Rost über einer Feuerstelle steht. Auch in diesem Camp leben mehrere Hundert Menschen. Sie kommen aus Syrien und Afghanistan. Einige Menschen aus Burundi, Pakistan und Tunesien nutzen die Visaabkommen, die Serbien als diplomatischen Dank für die Nichtanerkennung der Souveränität des Kosovos mit diesen Ländern geschlossen hat, um über Serbien in die EU zu gelangen.
Juristische und medizinische Hilfe
„Im Vergleich zum letzten Jahr beobachten wir eine Verdreifachung der Anzahl an Menschen, die in inoffiziellen Unterkünften im Norden Serbiens leben“, erzählt Betty Wang, die Projektkoordinatorin der internationalen Flüchtlingshilfsorganisation CollectiveAid in Subotica.
Milica Švabić ist Anwältin. Sie lebt in Belgrad und arbeitet seit acht Jahren für die serbische NGO klikAktiv, die gratis Rechtsberatung für Schutzsuchende anbietet. „Wir informieren die Menschen über ihre Möglichkeiten hier in Serbien, aber auch über das EU-Asylsystem. Themen wie Familienzusammenführung und das Eurodac-System (ein EU-weites Fingerabdruck-Identifizierungssystem; d. Red.) sind wichtige Themen für die durchreisenden Migrant:innen“, erklärt die Belgrader Anwältin. Einmal in der Woche fährt das Team von klikAktiv aus der serbischen Hauptstadt in den Norden des Landes und besucht die inoffiziellen Camps.
Nicolai Kißling lebt seit März vergangenen Jahres im nordserbischen Subotica, einer Stadt mit mehr als 100.000 Einwohner:innen. Er koordiniert dort das Projekt und die Einsätze der Hamburger Hilfsorganisation Medical Volunteers International (MVI). Fast jeden Tag fahren deren Freiwilligen in eine der von Migrant:innen bevorzugten Regionen in Grenznähe, um medizinische Unterstützung zu leisten.
„Ich war letztes Jahr in Griechenland und bin da irgendwie in die Geflüchtetenarbeit gestolpert“, erzählt Kißling von den Anfängen seines Engagements. Es sind die Kontakte und Bindungen zu den Menschen auf der Flucht, die Kißling in dieser Zeit aufbauen konnte, die ihn motivieren, die Arbeit an den EU-Außengrenzen weiterzuführen. „Ich finde, dass es eine extreme Ignoranz gegenüber dem Thema der Flucht über die Balkanroute gibt. Und gerade im Norden der Route gibt es sehr viel Misshandlung und wenige Hilfsstrukturen.“
So ist Kißling im letzten März nach Subotica gezogen. „Die Interaktion mit den meisten Menschen ist sehr nett. Sie freuen sich über die Hilfe, die wir anbieten können.“ Als unabhängige, Organisation ist Medical Volunteers International ein neutraler Player, der unparteiisch medizinische Unterstützung für alle anbietet. Deswegen werden die Ärzt:innen meist herzlich empfangen. „Ich nehme es aber auch niemandem übel, wenn sie sauer sind auf weiße Menschen. Am Ende sehen die Typen, die die Schutzsuchenden am Grenzzaun zurückprügeln, nicht so viel anders aus als ich.“ Wenn es vereinzelt Unmut gegen das Team von Kißling gibt, nehmen es die Helfer:innen verständnisvoll auf. „Die Menschen sind in dieser Situation wegen Europa und dann kommen Europäer:innen und wollen sie unterstützen – natürlich ist das auch absurd.“
Nicolai Kißling über Verletzungen beim Übersteigen der Grenzsperranlage
Häufig sehen Kißling und sein achtköpfiges, aus jungen Freiwilligen mit medizinischer Ausbildung bestehendes Team Verletzungen, die sich die Menschen bei dem Versuch eines Grenzübertritts zugezogen haben. Nicht selten bleiben Menschen mit einem Finger beim Überklettern des Zauns hängen. „Nicht selten sehen wir komplett aufgerissene Hände mit tiefen Wunden. Ab und zu reißen sich Menschen sogar Finger ab“, sagt Kißling. Blasen, aufgeschürfte Füße und Hypothermie behandeln die Freiwilligen ebenfalls immer wieder.
Neben den Verletzungen, die sich Menschen beim nächtlichen Überqueren des meterhohen Stacheldrahts zuziehen, behandeln die Mediziner immer wieder Spuren körperlicher Gewalt. „Wir sehen Spuren von Schlagstöcken, von Kabeln, von Tränengas, von Tritten und Tasergebrauch“, erzählt Kißling.
In der Datenbank des Border Violence Monitoring Network sind zahlreiche Berichte über folterähnliche Behandlung und unmenschliche Erniedrigung an der Grenze zusammengetragen. Dazu zählt das zwangsweise Einflößen von Lebensmitteln, die die Personen etwa aus religiösen Gründen nicht zu sich nehmen möchten, das Aussetzen in extremer Kälte sowie Zwangsentkleidung sind genauso Teil der Grenzgewalt wie Diebstahl und die Zerstörung privater Gegenstände.
Im September 2022 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Rückführung von illegal eingereisten Migrant:innen aus Ungarn nach Serbien ohne individuelle Prüfung des Asylbegehrens als Verstoß gegen die Menschenrechte bewertet. Diese sogenannten Pushbacks verstießen gegen das Verbot der Kollektivausweisung, so das einstimmige Urteil der Straßburger Richter:innen. Den Versuch der ungarischen Regierung, diese Rückführungen durch ein nationales Gesetz zu legalisieren, hatte der Gerichtshof der Europäischen Union (CJEU) schon 2020 für EU-rechtswidrig erklärt. Nationale Gesetze der Mitgliedstaaten der EU unterliegen dem übergeordneten Recht der Union. Das ungarische Gesetz ist daher aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs hinfällig.
Rückschiebungen trotz Verbot
Trotzdem schiebt Ungarn weiterhin systematisch Tausende schutzsuchende Menschen über die Grenze nach Serbien ab. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 waren es monatlich durchschnittlich 3.000 bis 4.000 Personen, geht aus einer Statistik des Hungarian Helsinki Committee hervor. „Die EU-Staaten müssten sich eigentlich nur an geltende Gesetze halten. Dann würde es den Menschen hier schon um einiges besser gehen“, sagt Kißling.
Obwohl ein Zaun und die Grenzbeamt:innen ihnen den Weg in die Europäische Union versperren, versuchen Hawaou, Akram und Tausende andere Migranten immer wieder, einen Asylantrag in der EU zu stellen. Sichere Fluchtrouten, humanitäre Visa oder Korridore für Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen und gute Aussicht auf einen Schutzstatus in der EU haben, gibt es nicht. „Ich verstehe nicht, warum es keinen Weg für sie gibt, legal nach Europa zu gelangen. Ihre Menschenrechte werden an den Außengrenzen regelmäßig buchstäblich mit Füßen getreten, aber wenn sie dann in der EU sind, dann heißt es, dass wir diese Menschen schützen wollen. Das ist doch schizophren“, kommentiert Kißling.
Milica Švabić, Anwältin
Eigentlich sollte das serbische Asylsystem an das der EU angepasst sein. Die Realität sieht anders aus. „Die Menschen in den offiziellen Camps werden von den Behörden einfach nicht registriert“, erklärt die Anwältin Milica Švabić. Ohne die Möglichkeit, einen legalen Status zu erlangen, ist ihnen der Zugang zu staatlichen Leistungen versperrt. Illegalisierte Migrant:innen erhalten keine Sozialleistungen, Kinder können nicht zur Schule gehen, oftmals werden sie nicht einmal in Krankenhäusern behandelt. „Das macht die Menschen sehr vulnerabel. Sie sind ausbeuterischen Strukturen schutzlos ausgeliefert“, sagt Švabić.
Schmuggler verdienen hier gut
Schmuggler fordern hohe Summen für die Bereitstellung von Leitern, um einen Grenzübertritt zu erleichtern. Banden haben sich den Grenzzaun untereinander aufgeteilt und verteidigen „ihre“ Abschnitte – wenn nötig mit physischer Gewalt. Wer die nötige Summe nicht aufbringen kann, muss Zwangsarbeit in den inoffiziellen Camps leisten, denn auch diese werden von den Schmuggelbanden kontrolliert.
Es herrschen klare Hierarchien und Machtstrukturen, die auch die Arbeit der Hilfsorganisation Medical Volunteers International beeinflussen. „Dass es in den inoffiziellen Camps ausbeuterische Machtstrukturen gibt, die zum Teil von der organisierten Kriminalität beherrscht werden, macht das ungestörte Ausführen unserer Arbeit manchmal unmöglich“, erzählt Kißling.
Er berichtet, dass es schon mehrfach vorgekommen sei, dass er und sein Team einen bestimmt Bereich der Camps abrupt verlassen mussten, da ihre Sicherheit in Gefahr war. Sichtbar sind diese Formen der Gewalt in den Camps nicht auf den ersten Blick. Nach einigen Besuchen kann man nur anhand der Kleidung und des Habitus einiger der dort Lebenden erahnen, wer weiter oben in der Rangordnung steht.
„Wir haben viele Frauen getroffen, bei denen wir vermuten, dass sie Opfer von Zwangsprostitution sind“, sagt die Anwältin Švabić. Die Frauen seien wohl oft abgeschottet in Hinterzimmern anzutreffen, oder in Hotels in der Stadt. „Anhand ihrer Geschichten, ihrer Kleidung und daran, wie lange sie schon hier sind, können wir erahnen, dass sie Zwangsprostitution leisten müssen“, sagt die Serbin. Offen darüber zu sprechen oder gar um Hilfe zu bitten traut sich niemand. Staatliche Schutzmöglichkeiten oder Frauenhäuser fehlen. Die betroffenen Frauen können der Gewalt nur entfliehen, wenn sie genug gearbeitet haben, um sich den Grenzübertritt leisten zu können, sagt Švabić.
Statistiken zeigten, dass auf der ungarischen Seite der Grenze etwa gleich viele Männer und Frauen ankommen. In den provisorischen Camps auf der serbischen Seite sind aber kaum Frauen zu finden, was die Aussage der Belgrader Aktivistin, dass viele Frauen abgeschottet und sexuell ausgebeutet werden, unterstützt. Auch deswegen ist Hawaou aus Guinea die einzige sichtbare Frau unter Hunderten Männern in der Unterkunft zwischen der Schnellstraße und dem Grenzzaun.
Abschiebung ins Landesinnere
Ende November kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Migrant:innen im Grenzgebiet. Vor einem Kiosk im Ortszentrum von Horgoš fielen an einem Nachmittag Schüsse. Ein Mann wurde mehrfach getroffen und starb, sechs weitere erlitten Verletzungen und mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Einige der mutmaßlich Beteiligten befinden sich in polizeilichem Gewahrsam.
In der darauffolgenden Nacht stürmten Sondereinheiten der serbischen Polizei die von Migrant:innen bewohnten Areale. Die dort lebenden Menschen transportierte man anschließend in offizielle Camps im Süden des Landes. Dann rückten Bulldozer an und zerstörten die improvisierten Behausungen, berichtet Nicolai Kißling.
Dort, wo Akram mit seiner Familie und Hunderten Menschen Anfang November noch gekocht, getobt, geraucht und geschlafen haben, ist jetzt alles verlassen. Auf der Wiese, wo Hawaou gesessen hatte, befindet sich niemand mehr. Ob die Menschen bald in die Grenzregion zurückkehren werden, ist ungewiss. Lokale Aktivist:innen berichten, dass sie am Verlassen der offiziellen Camps gehindert würden.
Subotica gilt als recht liberale Stadt. Viele Menschen hätten keine Vorurteile gegen die Migranten, meint der medizinische Helfer Nicolai Kißling. Im ländlicheren Raum, etwa um Horgoš herum, sei das anders. Die dortigen Einwohner fühlten sich von der großen Zahl an Schutzsuchenden überfordert.
Die Anwältin Milica Švabić hat eine veränderte Haltung vieler Serbier:innen gegenüber den Migranten wahrgenommen. „Es hat sich einiges geändert seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015“, sagt sie. „Am Anfang waren viele sehr hilfsbereit, haben Kleiderspenden gesammelt und Essen ausgeteilt. Mittlerweile ist es anders. Die Stimmung ist gekippt“, berichtet sie. „Die Lokalregierung will einerseits, dass die Menschen nicht mehr in den inoffiziellen Camps leben, sie will aber auch nicht, dass offizielle Camps in der Region gebaut werden. Sie sollen einfach verschwinden.“ Auch einigen EU-Staaten wäre es wohl recht, wenn die Migrant:innen aus dem serbischen Grenzgebiet verschwinden würden, zurück in ihr Herkunftsland.
Dass sich die serbische oder europäische Migrationspolitik fundamental ändern wird, hält Milica Švabić für unwahrscheinlich. „Deswegen müssen wir die kleinen Siege feiern“, sagt die Anwältin. „Ich freue mich zum Beispiel immer riesig, wenn ein Klient von mir nach langen Rechtstreitigkeiten tatsächlich einen Flüchtlingsstatus in Serbien bekommt.“
Es sind diese Siege, die Švabić motivieren und weitermachen lassen.
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