Mia Hansen-Løves „Alles was kommt“: Zurück bleibt die Katze Pandora
Ihr Leben ist die Theorie: Im Film „Alles was kommt“ spielt Isabelle Huppert eine Philosophielehrerin, der ihr Selbstbild abhanden kommt.
Vor zwei Jahren, als Mia Hansen-Løves Film „Eden“ in die Kinos kam, hatte ich die Möglichkeit, mit ihr ein Telefonat zu führen. Das Vorhaben verlief nicht unproblematisch. Erst wollte es mit der Verbindung nicht klappen, dann verschwand Hansen-Løve für gute zehn Minuten aus dem Gespräch. Jene Minuten, die tatsächlich stattfinden konnten, waren freundlich und informativ, aber auch etwas konfus.
Im „Eden“-Telefonat berichtete Hansen-Løve davon, wie die gesamte Crew zur Drehvorbereitung French-Touch-Platten gehört hatte, Bücher zur Clubkultur las und im Nachtleben recherchierte. Wie könnten die Voruntersuchungen zu „Alles was kommt“(L’avenir) ausgesehen haben? Also die, die möglicherweise gerade stattfanden, als ich nach Paris telefonierte?
Hansen-Løve hat sich für ihre letzten drei Filme immer eine thematische Plattform gesucht, die ihren Hauptprotagonisten zur mehr oder minder tragfähigen Fläche gereichten. In „Eine Jugendliebe“ („Un amour de jeunesse“) von 2011 war es die Architektur, welche die junge Camille (Lola Créton) zumindest zeitweise vom Liebesschmerz, verursacht durch den bindungsunwilligen Sullivan (Sebastian Urzendowsky), befreien konnte.
Außerdem gab es während des Studiums dieses Feldes den sehr viel älteren und von Camilles Tiefe angetanen Dozenten Lorenz (Magne-Håvard Brekke), der mit seiner Klasse Studienausflüge zum Bauhaus nach Dessau und ins dänische Louisiana unternahm – eine von theoretischen Einwürfen gespickte Reise, auf der Studentin und Lehrender zueinander fanden und man nebenbei noch etwas über Konstruktion erfahren konnte.
„Alles was kommt“. Regie: Mia Hansen-Løve. Mit Isabelle Huppert, André Marcon u. a. Frankreich/D 2016, 98 Min.
Über mehrere Jahre hinweg erstreckte sich Hansen-Løves fiktive Langzeitbeobachtung „Un amour de jeunesse“, ebenso wie ihr erster Spielfilm „Tout est pardonné“. Und auch „Eden“ und nun„L’avenir“ stellen keine Ausnahmen dar. Beschäftigte sich „Tout est pardonné“ mit einem gescheiterten Schriftsteller, der obendrein den Drogen anheim gefallen war, verblieben „Eden“ viele rauschhafte Nächte und verkaterte Tage mit DJ Paul (Félix de Givry).
Rousseau am Morgen
„L’avenir“ schließlich zeigt das Leerwerden eines Lebens. Es ist das von Philosophielehrerin Nathalie Chazeaux (Isabelle Huppert). Die zu bespielende Plattform von Mia Hansen-Løves aktuellem Film also ist die Philosophie. Und es gibt einige Vertreter dieser Disziplin, denen in„L’avenir“ zu begegnen ist.
So beginnt ein üblicher Morgen Nathalies mit Rousseaus Gedanken zur Demokratie, die sie ihren Schülern zur Diskussion aufgibt. Der Klassenraum wird zum Denkraum, in den sich Madame Chazeaux mühelos begibt. Wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, weil sie ihn kaum je verlässt.
Die Fahrt mit der U-Bahn verbringt sie mit der französischen Übersetzung von Hans Magnus Enzensbergers Schrift „Schreckens Männer: Versuch über den radikalen Verlierer“, abends empfiehlt ihr der ehemalige Schüler und jetzige Doktorand Fabien (Roman Kolinka), der außerdem Mitglied einer anarchischen Gruppierung ist, die sich mit alternativen Lebensformen sowie der Herstellung von Käse befasst und sich aufs Land zurückgezogen hat, ein Werk Günther Anders’.
Nathalie Chazeauxs Leben ist die Philosophie und sie hat sich auf diesem Gebiet immerhin so verdient gemacht, dass sie an Schulbüchern mitwirkt und Anthologien zusammenstellt. Allerdings befindet sich das alles auf dem absteigenden Ast. Dem Verlag sind die Bücher zu trocken und kompliziert – kurz: nicht konkurrenzfähig genug –, Ehegatte Heinz (André Marcon) beginnt eine Affäre und entscheidet sich gegen die Fortführung der Beziehung mit Nathalie.
Und schließlich ist da noch Mutter Yvette (Édith Scob), die ihre Tochter mit Telefonanrufen überhäuft, die depressiv ist, sich umbringen möchte und weiß, dass der ehemalige Premierminister Jacques Chirac gerne Sex in Stiefeln mochte. Als Yvette stirbt, hinterlässt sie Nathalie die schwarze Katze Pandora. Und Nathalie verliest einige Zeilen von Blaise Pascal.
Reicht intellektuelle Erfüllung zum Glücklichsein?
Die Verluste öffnen Nathalies geschlossenes, philosophisches System, in dem Aktualitäten (auch politische) ausgeblendet werden, sobald sie sich real formieren. Geschehen ist für sie nur als Lektüre greifbar. Ein Streik auf der Straße geht sie nichts an, abgesehen davon, dass dieser den pünktlichen Unterrichtsbeginn verhindert.
Sie selbst sagt in einem Gespräch mit Fabien, der so attraktiv ist, dass es Nathalie unmöglich entgangen sein kann: „Mein Leben ist intellektuell erfüllt, das reicht zum Glücklichsein.“ Mia Hansen-Løve scheint ihr dieses Selbstbekenntnis nicht ganz abzunehmen. Sie maßt ihrer Figur aber auch keinen Gegenvorschlag an. Was dafür spürbar ist, ist ein Vertrauen in das, was vielleicht als so etwas wie ein Wesen benannt werden könnte. So schwamm Camille der von Sullivan geschenkte Sommerhut in einem Moment selbstvergessener Freude einfach davon. Und Nathalie freut sich, während einer Autofahrt mit Fabien endlich etwas anderes zu hören als die Stimme Dietrich Fischer-Dieskaus.
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