Metro-Attentat in Moskau: Ein Anschlag auf die Moderne
Das Attentat auf die U-Bahn war auch ein Angriff auf das Selbstverständnis. Ihre Präzision steht für die Zugehörigkeit zur Zivilisation und europäischen Kultur.
MOSKAU taz | Wo sich sonst im Moskauer Berufsverkehr Menschenmassen schwerfällig durch das Gänge-Labyrinth der Metro schieben, ist nach blutigen Attentat in der vergangenen Woche nur noch eine überschaubare Menge von Passagieren anzutreffen. Das Ergattern eines Sitzplatzes ist kein Kampf mit harten Bandagen mehr.
Sie hätte immer noch ein mulmiges Gefühl, meint die Sekretärin Valentina Z., die auf den Busverkehr umgestiegen ist. "Wir Moskauer vergessen aber schnell und gehen bald wieder zur Normalität über", sagt sie augenzwinkernd: Wie die Politik, die erst härteste Sicherheitsmaßnahmen ankündigt und nach dem Abflauen des öffentlichen Zorns indes phlegmatisch in den alten Trott verfällt.
Der Anschlag mit 39 Toten und mehr als 80 Verletzten in zwei Metrostationen paralysierte den Verkehr der Megapolis und legte deren dunkle Seiten über Tage offen: Die atomisierte und entsolidarisierte Gesellschaft Russlands. Taxifahrer machten aus dem Leid der Moskauer Profit und verlangten dreifache Fahrpreise.
Das Attentat zielte nicht nur auf Moskaus wichtigste Verkehrsader, es griff auch ein Symbol der Hauptstadt an. Die Metro ist ein Wahrzeichen der Stadt, seit Eröffnung 1935 verkörpert das unterirdische Tunnelsystem den Aufbruchswillen Sowjetrusslands in die Moderne. So wie der Kreml das alte selbstgenügsame Russland verkörpert. Der Anschlag war auch der Versuch, diesem lebendigen Mythos Schaden zuzufügen.
Die Moskauer sind stolz auf ihre Metro. Selten entlassen sie einen Gast aus der Hauptstadt, ohne den prunkvollen Bahnhöfen aus der Gründerzeit einen Besuch abgestattet zu haben. "Mehr noch als alle Theater und Paläste wird die Metro unseren Geist anregen und erhellen", beschwor Stalins Volkskommissar für das Eisenbahnwesen, Lasar Kaganowitsch, 1935 das Bau- und Bildungsvorhaben.
Der Stolz gilt unterdessen nicht nur der pompösen Innenausstattung der Bahnhöfe aus Marmor und Granit im sozialistischen Klassizismus, die der sozialistischen Persönlichkeit auch ein neues Verständnis von Erhabenheit vermitteln sollte. Es ist die Präzision dieser Verkehrsmaschine, die im Sekundentakt in die Bahnhöfe donnert, die den Menschen das Gefühl verleiht, Teil der zivilisierten Welt zu sein. Die Metro versinnbildlicht den Gegenentwurf zum Ungenauigkeitsethos der russischen Kultur, die aufwendige und mühselige Kleinarbeit verachtet, sie gar für eine kleinbürgerliche Attitüde hält und stattdessen lieber das große Ganze im Auge hat, mit dem Anspruch einst die Welt mit einer Mission zu beglücken.
Wenn der russische Alltag über der Erde wieder mal in Chaos und Liederlichkeit versinkt und unerträgliche Anstrengungen erfordert, auf die Präzisionsmaschine unter der Erde ist Verlass. Für Moskauer liegt darin der Beweis, dass Russland trotz aller eigenen Vorbehalte der europäischen Kultur angehört. Das Innere muss nur noch nach außen gekehrt werden, sozusagen.
Diese Maschine mit einem Schienennetz von rund 300 Kilometern und 177 Stationen, die täglich 9 Millionen Menschen befördert, wurde Montag vergangener Woche lahmgelegt und legte ihre Verletzbarkeit offen. Seit 1996 wurden drei Anschläge auf die Metro verübt, der vorletzte fand im Februar 2004 statt, auch damals starben 39 Menschen. Alle Attentäter stammten aus Tschetschenien.
Dass sich nun eine der "schwarzen Witwen" von Hintermännern in der Station "Lubjanka" in die Luft sprengen ließ, unterstreicht die symbolische Bedeutung des Terrorakts. Die Station liegt 32,5 Meter unterhalb der Zentrale des FSB-Geheimdienstes. Dessen Vorgänger - das KGB und das NKWD der Stalinzeit - waren selbst Organisationen mit terroristischer Vergangenheit. In der Ära Wladimir Putins besetzten die Kader des Geheimdienstes alle Schlüsselpositionen im Staat. Sie kontrollieren die Geldströme, versagen aber, wenn es darum geht, als Sicherheitsgarant Kernkompetenz zu beweisen.
Mit dem Anschlag unterhalb der Folterkammern des KGB erklärten die islamistischen Eiferer den russischen Sicherheitsbehörden den Krieg. Die Dimensionen mögen sich unterscheiden. Doch in Russland und wohl auch in den Terrorzirkeln des Nordkaukasus wird der Metroanschlag mit der Bedeutung gleichgesetzt, die die Zerstörung des World Trade Centers 2001 für die USA hatte. Auch dort wurden das Selbstverständnis der Nation und der ideologische Nerv im Mark getroffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil