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Merve-Buch „Ethnofuturismen“Mehr Zukunft wagen

Weniger postkolonial, mehr Gegenzukunft: Der neue Merve-Band „Ethnofuturismen“ versammelt Theorien über die Zukunft jenseits des Westens.

Die Zukunft ist in China schon da: Fußgängerbrücke in Chongqing in 68,5 Metern Höhe Foto: dpa

Unser Leben ist ein Wechsel von Gegenwart zu Gegenwart. Dabei verbeugen wir uns vor oder kritisieren die Vergangenheit, vor der Zukunft haben wir Angst. Zukunft ist kein Möglichkeitsraum mehr, sondern Bedrohung. Zum Anfassen gibt es sie höchstens in technischer Form, als Software-Update oder präemptive Empfehlungsalgorithmen auf Amazon, die immer schon wissen, was wir wollen sollen.

Wo das Politische in einer von Konsumprodukten beherrschten Zukunft bleibt, fragen sich seit einigen Jahren ein paar PhilosophInnen und haben das Ganze Akzelerationismus getauft. Während sich der linke Flügel (Alex Williams, Nick Srnicek) die volle Automatisierung und ein bedingungsloses Grundeinkommen wünscht, sinniert ihr rechter Flügel (Nick Land) von einer apokalyptischen Welt, die von autoritären wie hoch technologisierten Stadtstaaten regiert wird. Beide denken die Gegenwart von der Zukunft aus.

Doch ihre Perspektive ist stets eine westliche. Der kleine Band „Ethnofuturismen“, herausgegeben von Armen Avanessian und Mahan Moalemi, möchte dem etwas entgegensetzen. Der Begriff, bewusst im Plural stehend, umfasst alternative Zukunftsideen, die mal bedrohlich, mal wünschenswert, mal ziemlich abgefahren daherkommen.

So verpasst der britische Kulturtheoretiker Kodwo Eshun in einem gewohnt kongenialen Essay dem Afrofuturismus eine überfällige Aktualisierung und wünscht sich weniger postkoloniale Gegenerinnerungen (Toni Morrison) und mehr „Gegenzukünfte“.

Marx' Versäumnis

Der jüngst gefeierte Superhelden-Film „Black Panther“ könnte hierfür schon das erste Beispiel sein. Hieran knüpft die Autorin Aria Dean an und bringt den Akzelerationismus mit einer afrofuturistischen Blickrichtung zusammen. Ersterem wirft sie vor, wie etwa bei der Beschreibung der Entstehung des Kapitalismus allgemein, die Position des Kolonialismus ignoriert zu haben.

Das Buch

Armen Avanessian und andere "Ethnofuturismen", Merve Verlag Berlin, 2018, 150 Seiten, 15 Euro

Der Kapitalismus sei vor allem mithilfe der Ausbeutung der Sklaven als kostenlose „Arbeitswaren“ hervorgebracht worden. Abstrakter wird es im rauschhaften Essay von Autor und Musiker Steve Goodman aka Kode9, in dem er den Begriff „Sinofuturismus“ zu fassen versucht.

Mal bedrohlich, mal wünschenswert, mal abgefahren

Darin verschaltet er Ideen über die geheimen Machenschaften der chinesischen Triaden mit Sun Tses Täuschungsmanöver-Bibel „Kunst des Krieges“ sowie den Strategien der Hongkonger Untergrund-Banknetzwerke zu einem wilden Cut-up-Text über den Zusammenhang von Kybernetik und moderner Chronopolitik. Die basiert, wie wir als Empfänger personalisierter Werbung wissen, vor allem auf Feedbackschleifen. Auf die so ermöglichten Verschlüsselungssysteme hätten laut Goodman Verbrechersyndikate immer gehofft.

Zukunftsgenossenschaft

Was all die oft schlauen wie wirren Ideen nun mit einer anderen, womöglich besseren Zukunft zu tun haben, bleibt zu denken der LeserIn überlassen. Genauso wie aus der losen Textsammlung ein konsistentes Etwas zu stricken.

Dass wir statt einer „xenophoben Vergangenheitsgenossenschaft“, wie es der von der neuen Rechten gefeierte Ethnopluralismus propagiert, eine „xenofuturistische Zukunftsgenossenschaft“, wie es im Vorwort heißt, benötigen, ist nicht nur wünschenswert, sondern notwendig.

Nur eine Zukunft, in der Menschen sich nicht festen „Kulturen“ zugehörig fühlen, sondern als Teil einer emanzipierten Weltgemeinschaft, ist eine, in der wir besser leben können.

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1 Kommentar

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  • Der massive Einschuss von Energie geht zuende. Der Kapitalismus ist nur denkbar, wenn er wächst. Wachstum und Energiemehrverbrauch liefen in den letzten 100 Jahren parallel. Den Mehrverbrauch alternativ abzudecken wird nur in sehr kleinen Segmenten gehen und ohne dass man die eingesetzte "graue Energie" mitrechnet. Wenn der Kapitalismus wankt, wird dies Auswirkungen auf die Förderung von Öl und auf die Bildung haben - auf die Nahrungsmittelversorgung und Medizin schon sowieso. Gleichzeitig werden jene Länder mit leicht verfügbarem Öl oder Kohle militärisch im Vorteil sein. Zusammen mit dem Klimawandel wird das massenhaft verarmte, bildungsferne Flüchtlinge erzeugen, für die Kolonialismus noch eine positive Vision ist. Wenn wir uns weiterhin mit Träumen aufhalten, anstelle Kleingärten, regionale Produktion und resiliente Verfahren aufzubauen, werden wir uns statt ins Mittelalter oder in der Bronzezeit - die letzten technischen Kulturen ohne fossile Energie - in die Steinzeit katapultieren! Alles, was man auf dem Foto von Chongqing sieht, ist geronnenes Öl: Stahl, Beton, Glas, Düngemittel für die Nahrung der Arbeiter, die Chongqing gebaut haben. Ohne Öl werden unsere Städte innerhalb weniger Jahre verfallen, weil sie nicht mehr betrieben werden können. Die Leute werden auf die Felder strömen und versuchen, ihr Fleckchen Kartoffelacker gegen andere Wünsche zu schützen. Unsere Zukunft wird nicht hochtechnisiert sein, sondern bestenfalls wie ein Pfadfinderlager aussehen.