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Menschliche PsychiatrieWeniger Zwang ist möglich

Trotz Reformwillen erreicht Bremen Spitzenwerte bei Fixierungen und Zwangsbehandlungen. PsychiaterInnen diskutieren, wie’s besser geht.

Obacht Psychiatrie! Aus Angst wachsen Abstand und Zwang Foto: Christoph Schmidt/dpa

BREMEN taz | Geschlossene Türen, Fixierungen, Zwangsmedikation: Es ist das Schreckensbild einer Psychiatrie, die so heute eigentlich keiner mehr will. Doch obwohl es das erklärte Ziel sowohl der Politik als auch der psychiatrischen FachärztInnen ist, die auf PatientInnen ausgeübte Gewalt so weit es geht zu minimieren, steigen die Zahlen der angewendeten Zwangsmaßnahmen an. Auf der Fachtagung „Psychiatrie 2.0: Im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Zwang“ sprach Gesundheitssenatorin Eva Quante-Brandt in ihrem Grußwort von einer „Schere, die immer weiter auseinandergeht“ – und gestand ein: „Dass wir ein Problem haben, wissen wir, und das wissen Sie.“

Fixierung dauert zehn Stunden

Jörg Utschakowksi, Psychiatriereferent der Senatorin, untermauerte das „Problem“ mit Zahlen: Bei der Zahl der Zwangseinweisungen liegt Deutschland europaweit auf Platz zwei. Die durchschnittliche Dauer von Fixierungen liegt in Deutschland bei 10 Stunden – in England hingegen bei 20 Minuten. Bei der Zahl der Unterbringungen nach Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) ist Bremen bundesweit Spitzenreiter. Das alles will eigentlich niemand, schon gar nicht in Bremen, wo die im Jahr 2013 auf den Weg gebrachte Psychiatriereform einstimmig in der Bürgerschaft beschlossen worden war.

Jens Reimer, der nicht erst seit den jüngsten Vorkommnissen am Klinikum Bremen Ost in die Kritik geratene Chef des Zentrums für Psychosoziale Gesundheit, räumte in seinem Impulsreferat ebenfalls ein: „Die Anfang des Jahres in den Zeitungen geäußerte Kritik an der Geno und dem KBO ist nicht unberechtigt, denn wir haben dort einen Anstieg der Zwangsmaßnahmen zu verzeichnen.“ Anders sei es im Klinikum Bremen Nord. „Irgendetwas ist in Nord besser als in Ost, dem müssen wir uns stellen.“ Besonderes Augenmerk legt Reimer dabei auf die schlechte bauliche Situation in Ost und die vergleichweise schlechtere Personalausstattung.

Klinik behandelt Patienten zu Hause

Einen besonderen Weg zur Reduzierung von Zwang und langen Klinik-Verweildauern zeigte Matthias Heißler, Chefarzt der Psychiatrie im schleswig-holsteinischen Geesthacht, auf. Er hatte im Jahr 2007 mit den Krankenkassen ausgehandelt, dass er das ihm zur Verfügung stehende Budget von rund sieben Millionen Euro frei verwenden darf.

Er reduzierte daraufhin die psychiatrischen Stationen in seinem Haus von drei auf eine und bildete vier mobile Einsatzteams, die die PatientInnen zu Hause behandeln. Die verbliebenen rund 20 Betten auf der Station reichen seither aus, den Landkreis mit 193.000 EinwohnerInnen psychiatrisch zu versorgen. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Lebensumfeld des Patienten: „Auf Station ist das Lebensumfeld der blinde Fleck.“ Daher müsse so schnell wie möglich der Kontakt zu den Beteiligten im sozialen Umfeld aufgenommen werden.

Psychisch Kranke sind keine Heiligen, das sind ja Menschen aus Fleisch und Blut

Matthias Heißler, Chefarzt der Psychiatrie in Geesthacht

Die ÄrztInnen in Geesthacht machen daher beides: Sie versehen ihre Arbeit auf Station und fahren in den mobilen Einsatzteams zu den PatientInnen nach Hause. Denn der Arzt, dem ein Patient in einer akuten Krise bei der Aufnahme auf der Station begegne, müsse später auch die ambulante Betreuung übernehmen. „Wenn man in der Krise die Not geteilt hat, ist das der Boden für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient.“ Diese Erfahrung sei „nicht delegierbar“, sagte Heißler.

Manchmal hilft Essen kochen

Auf der Station selbst sind die Türen offen. Das erfordere zwar eine gute Vorbereitung aller MitarbeiterInnen, denn die müssten sich bereit erklären, sehr viel mehr Verantwortung als ohnehin schon zu übernehmen. „Sie müssen die Tür im Blick haben. Das ist wie im Fußball die Raumdeckung“, erklärt Heißler. Aber auch durch die Einbindung der PatientInnen selbst in die Struktur auf der Station könne man Fluchtimpulse oft verhindern. Eine Möglichkeit sei die in Geesthacht zwischenzeitlich praktizierte „Kochtherapie“: Die PatientInnen kochen ihr Essen gemeinsam, haben damit etwas Sinnvolles zu tun und so „weniger Zeit zum Spinnen“. Zur Frage, wie man das Konzept der Regionalbudgets sinnvoll auf Bremen übertragen könnte, sagte Heißler: „Das geht nur über die Kliniken. Die müssen bereit sein, etwas vom Budget an andere Träger zu delegieren.“

Dabei wird klar: Es kommt auf den guten Willen der Beteiligten an. Nicht in Konkurrenz, sondern nur über Kooperation lässt sich ein solches Konzept verwirklichen. Die ganz große Frage schließlich, ob eine Psychiatrie in naher oder ferner Zukunft nicht gänzlich ohne Zwang auskommen könnte, beantwortete Heißler so: „Psychisch Kranke sind keine Heiligen, das sind ja Menschen aus Fleisch und Blut.“ Zwang sei auch in der Gesellschaft nun mal vorhanden. „Den Zwang in den Kliniken ganz abzuschaffen, wird vielleicht nicht gehen. Aber man kann ihn reduzieren.“

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