Menschenrechtsanwalt über Krieg in Gaza: „Nur in den Grenzen des Rechts“
Wolfgang Kaleck fordert den internationalen Strafgerichtshof auf, gegen Israel und Hamas zu ermitteln. Er erinnert an Fehler nach dem 11. September.
taz: Herr Kaleck, in Gaza herrscht seit fünf Wochen Krieg, und sowohl Israels Armee als auch der Hamas werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Sollte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag diesen Vorwürfen nachgehen?
Wolfgang Kaleck: Das fordern zahlreiche hochrangige Juristen weltweit, und wir schließen uns dieser Forderung an.
Was würde das bringen?
Gründete 2007 mit anderen internationalen Anwält:innen das European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin, dessen Generalsekretär er ist.
Strafjustiz ist immer reaktiv, kommt zu spät und kann meist nur einen Teil der Vorwürfe aufarbeiten. Nichtsdestotrotz ist es sehr wichtig, ihnen schon früh nachzugehen. Das hilft, die Debatte zu versachlichen, und macht klar, dass es auch in bewaffneten Konflikten Grenzen gibt. Wenn internationale Instanzen das feststellen und Strafverfahren einleiten, dann kann das einen eindämmenden oder sogar präventiven Effekt haben.
Welche Befugnisse hat der Gerichtshof im konkreten Fall?
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat sich 2015 seiner Gerichtsbarkeit unterworfen, und eine Kammer des Gerichts hat 2021 festgestellt, dass er Völkerstraftaten in Palästina von allen Parteien sowie solche von palästinensischen Tätern in Israel verfolgen kann. Seitdem hätte sein aktueller Chefankläger Karim Khan die Möglichkeit, umfassend zu ermitteln. Bisher ist das aber nicht passiert.
Warum nicht?
Das hat unter anderem mit fehlenden Ressourcen und Priorisierung zu tun hat. Ohne sie kann in einem so komplexen Feld nicht auf professionellem Niveau ermittelt werden.
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurde schnell reagiert, und dem Gerichtshof wurden rasch entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt. Jetzt nicht?
Nein. Aber wenn der Strafgerichtshof nur aktiv wird, wenn der Westen dahintersteht und das finanziell unterstützt, untergräbt das seine Glaubwürdigkeit. Er muss Straftaten, die unter sein Statut fallen, nachgehen – unabhängig davon, ob die Verdächtigen einem westlichen oder mit diesem befreundeten Staat angehören oder nicht. Viele Teile der Welt werfen Institutionen wie dem Gerichtshof Doppelstandards vor. Deswegen ist es so wichtig, auf universelle Prinzipien zu bestehen, auch gegen nichtstaatliche Akteure. Und das bedeutet nicht, Unterschiede zwischen einzelnen Fällen zu leugnen.
Deutschland hat sich enthalten, als in den UN über eine „humanitäre Waffenruhe“ abgestimmt wurde. Die Bundesregierung wollte das Recht Israels auf Selbstverteidigung nicht infrage stellen. Können Sie das nachvollziehen?
Ich will das nicht kommentieren. Aber jede kriegführende Partei muss sich innerhalb der Grenzen des geltenden Rechts bewegen – genau wie jede Polizeibehörde, auch wenn es um schlimme Verbrechen geht. Es ist traurig, so eine Selbstverständlichkeit zu betonen, aber das kommt mir im Moment deutlich zu kurz.
Ich fühle mich an die Zeit nach den Attacken vom 11. September 2001 erinnert Damals haben Deutschland und die Nato den USA ihre vorbehaltlose Unterstützung zugesichert. Später zeigte sich, dass damit auch systematischer Folter und anderen Kriegsverbrechen Vorschub geleistet wurde. Deshalb ist es falsch, einem Bündnispartner einen Freibrief auszustellen – insbesondere wenn diesem bereits früher Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen wurden. Deutschland kann Israel ja unterstützen. Aber auf eine entmenschlichende Kriegsrhetorik und eine so große Zahl getöteter Zivilisten muss man reagieren. Es ängstigt mich, dass das kaum passiert.
Frankreichs Präsident Macron hat kritisiert, Israel würde die Zivilbevölkerung in Gaza nicht ausreichend schützen. Wünschen Sie sich von der Bundesregierung ähnliche klare Worte?
Ja, denn es geht dabei auch um die Zukunft unseres internationalen Regelwerks. Wie sollen wir denn die globalen Krisen der Zukunft meistern, wenn man zeigt, dass diese internationalen Institutionen, die man mit geschaffen hat und mitfinanziert, nur den eigenen Interessen dienen? Damit droht uns alles unter den Fingern zu zerbröseln.
Massaker an Zivilisten und Geiselnahmen, wie sie die Hamas begangen hat, sind auch Kriegsverbrechen. Wie kann man sie ahnden?
Diese Frage hat sich auch nach den Anschlägen vom 11. September gestellt. Damals haben die USA gar nicht erst versucht, Osama bin Laden und seine Leute einer Strafverfolgung zuzuführen, sondern wollten sie von Anfang an töten und ihre Infrastruktur zerstören. Dabei hätte man sie vor Gericht stellen sollen.
Die USA und ihre Verbündeten mussten sich nie in Den Haag für Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak verantworten. War das ein Fehler?
Zur Zeit von 9/11 gehörten weder Afghanistan noch Pakistan noch die USA zu den Unterzeichnerstaaten des Strafgerichtshofs. Es hätte dafür einer Resolution des UN-Sicherheitsrats bedurft, aber dagegen hätten die USA ihr Veto eingelegt. Später ist Afghanistan dem Strafgerichtshof beigetreten. Man hätte da also zumindest die Foltervorwürfe gegen die USA und Anschläge der Taliban untersuchen können, aber auch insoweit ist zu wenig passiert. Und es hätte die Möglichkeit gegeben, das vor den Gerichten von Drittstaaten zu verfolgen – genau das haben wir hier in Europa ja versucht, mit Anklagen in Deutschland, in Spanien, in Frankreich und in Belgien. Damit haben wir deutlich gemacht, dass auch Großmächte wie die USA dem Recht verpflichtet sein müssen, und der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte hat Urteile gegen europäischen Mittäter gefällt.
Was kann Israel tun, um Zivilisten zu schützen, wenn die Hamas Zivilisten als Schutzschild benutzt oder Waffen in Krankenhäusern oder Schulen lagert?
Zunächst ist die Ausnutzung von Zivilisten in derartiger Weise ein Kriegsverbrechen. Aber solche Taten der einen Seite erlauben keine Verstöße von der anderen Seite. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.
Hätte Israel auf den Großangriff der Hamas anders reagieren sollen?
Ich bin kein Politiker und kein Militärstratege. Ich stelle nur fest, dass infolge der von Israel gewählten Strategie in unverhältnismäßigem Maße Zivilisten getötet werden. Damit sind die Grenzen des Rechts vermutlich überschritten – und das muss dazu führen, dass diese Sachverhalte sorgfältig und umfassend untersucht werden.
Karim Khan hat Ende Oktober Israel und die Hamas davor gewarnt, gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Ermittelt er schon?
Ich kenne seine Untersuchungsstrategie nicht, und möglicherweise wird er sich bald dazu äußern. Aber wir fordern, dass konkrete Schritte erfolgen müssen. Er könnte sofort tätig werden, und das erwarten wir auch.
Was hindert ihn?
Das müssen sie ihn fragen. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs gibt dem Chefankläger relativ große Freiheiten. Es war eine bewusste Entscheidung, es nicht dem UN-Sicherheitsrat zu überlassen, wann und wie ermittelt wird, sondern dem Chefankläger selbst. Die Ressourcen der Anklagebehörde sind allerdings begrenzt, deshalb muss er Prioritäten setzen. Das entspricht oft den Interessen der Hauptgeldgeber und Hauptunterstützer des Gerichtshofs. Und das ist ein Problem.
Die ersten Strafverfahren und Verurteilungen des Gerichtshofs richteten sich gegen Täter in Afrika. Das ließ sich anfangs gut begründen. Aber inzwischen besteht die Gefahr, dass der Gerichtshof unglaubwürdig wird. Zu viele Verfahren wurden über Jahrzehnte verschleppt und eingestellt. Man darf Putin, Erdoğan oder China nicht erlauben, den Vorwurf von Doppelstandards zu erheben.
Seit März 2021 geht der Gerichtshof bereits Vorwürfen aus dem letzten Gaza-Krieg von 2014 nach. Kann er Geschehnisse aus dem aktuellen Krieges einbeziehen?
Es könnte zunächst ohne Weiteres wegen der bereits erhobenen Vorwürfe ermittelt werden. Hoffentlich macht er das schon. Die Frage ist aber: Mit welchen Ressourcen? Dann könnte er jetzt Beweise bezüglich des aktuellen Konflikts sichern. Das ist inmitten eines Konflikts extrem schwierig. Aber was getan werden kann, sollte getan werden: Zeugenaussagen dokumentieren, Luftaufnahmen auswerten, solche Dinge.
Israel verstößt auch mit dem Bau von Siedlungen im Westjordanland gegen das Völkerrecht. Wird da auch ermittelt?
Ja, aber auch da ist noch nicht besonders viel passiert. Es wäre wichtig, dass sich der Internationale Strafgerichtshof dazu mit seiner Autorität äußert, ob Israel Völkerstraftaten begangen hat oder nicht. Das hätte im Übrigen auch Konsequenzen für europäische Unternehme,n die am Siedlungsbau beteiligt sind.
Angesichts der Dramatik dessen, was gerade in Gaza passiert, geht die Situation im Westjordanland in der Berichterstattung fast unter. Aber ist einfach schwer hinnehmbar, was sich da seit Jahren abspielt – dass israelische Siedler teilweise Jagd auf Palästinenser machen und israelischen Soldaten sie dabei schützen.
Angesichts der Rhetorik mancher israelischer Politiker warnen manche Stimmen sogar vor einem Genozid in Gaza. Ist das berechtigt?
Ich teile diese rechtliche Bewertung nicht. Dahinter steckt im Übrigen die Vorstellung, es gäbe eine Art Hierarchie der Verbrechen, und an der Spitze steht der Genozid. Ich möchte mich nicht an so einem Ranking beteiligen. Wichtiger ist, Völkerstraftaten überhaupt juristisch zu verfolgen.
Angehörige von Opfern des Großangriffs der Hamas haben sich an den Gerichtshof gewandt und fordern, deren Verbrechen zu verfolgen. Auch Reporter ohne Grenzen fordert Ermittlungen, weil in diesem Krieg bereits über 36 Journalisten getötet wurden – so viele wie seit 30 Jahren in keinem Konflikt. Hat das einen Effekt?
Die Hürde, sich an den Gerichtshof zu wenden, ist niedrig. Aber wenn renommierte Institutionen das tun, dann wird das sicherlich zur Kenntnis genommen. Und dass sich Angehörige von israelischen Opfern an den Strafgerichtshof gewandt haben ist wichtig, weil der Staat Israel dessen Legitimation und Jurisdiktion infrage stellt. Zivilgesellschaftlichen Akteure können einiges in Bewegung setzen. Die Aufarbeitung von Völkerstraftaten ist nicht nur Angelegenheit von Staaten.
Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Wo stehen wir heute: Hat das Recht des Stärkeren gesiegt?
Das wird die Geschichte zeigen. Aber noch während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde, haben die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges Frankreich und Großbritannien schlimmste Menschenrechtsverletzungen bei der Bekämpfung von Unabhängigkeitsbewegungen in ihren damaligen Kolonien begangen und auch die Verabschiedung des Sozialpakts und des Zivilrechtspakts bis 1966 verzögert. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass sich rechtliche Normen nicht automatisch in die Realität umsetzen. Dazu braucht es immer Akteure, die für die Menschenrechte kämpfen.
In den vergangenen 25 Jahren hat sich weltweit eine wachsende und lebendige Menschenrechtsszene herausgebildet – nicht nur in den USA oder Europa, sondern auch im Globalen Süden. Und es gibt auch hier Fortschritte, etwa die Prozesse vor deutschen Gerichten gegen Taten, die in Syrien oder Gambia begangen wurden, oder auch das Lieferkettengesetz. Ohne die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die nachfolgenden Konventionen und Pakte wären diese Fortschritte nicht denkbar gewesen wären.
Sie sehen keinen Rückschritt?
Das Gefühl, dass alles immer schlimmer wird, hat auch etwas mit unserer medialen Wahrnehmung der Welt zu tun. Die Kommunikation ist unglaublich schnell geworden, und wir werden quasi in Echtzeit über Menschenrechtsverletzungen informiert. Wenn man jeden Tag diese Bilder sieht, das kann man emotional und erst recht nicht rational verarbeiten. Aber es war nie nur schön auf dieser Welt, und schon gar nicht für alle. Allerdings bin ich überzeugt, dass es auf der Welt schlimmer aussähe, wenn es die Menschenrechte nicht gäbe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“