Menschenrechtsaktivist zu Isolationshaft: „Widerspricht türkischem Recht“
Welt-Korrespondent Deniz Yücel und weitere türkische Journalist*innen befinden sich derzeit in Einzelhaft. Das ist unangemessen, sagt Öztürk Türkdoğan.
taz: Herr Türkdoğan, wie muss man sich die Haftbedingungen für Journalist*innen in der Türkei vorstellen?
Öztürk Türkdoğan: Die verschärfte Einzelhaft in der Türkei ist in keinerlei Weise mit Haft in Deutschland vergleichbar. Dort werden Inhaftierte vielleicht allein in Haft belassen – aber es gibt vorgesehene Zeiten für den sozialen Austausch, also gemeinsame Hofgänge und dergleichen. In der Türkei gibt es eigentlich seit 2007 einen Erlass des Justizministeriums, wonach Gefängnisinsassen Zeit für soziale Kontakte zugesichert wird. Die Umsetzung ist jedoch vollkommen der Willkür der Gefängnisleitung unterworfen.
Was dürfen Gefangene in der verschärften Einzelhaft?
Sie können an die frische Luft gehen. Allein. Jede Zelle hat ihren eigenen abgetrennten Freiluftraum, sodass sie die anderen Inhaftierten nicht zu Gesicht bekommen. Jetzt, während des Ausnahmezustands, dürfen sich Gefangene, denen Terrorunterstützung vorgeworfen wird, durch ihre Anwälte nur eine Stunde in der Woche beraten lassen. Die Beratungen werden aufgezeichnet. Nur engsten Familienmitgliedern, etwa Frau und Kindern, ist es erlaubt, alle zwei Wochen einen Besuch abzustatten. Diese Form von Isolationshaft widerspricht türkischem Recht.
Kann man denn sagen, wie viele Journalist*innen sich derzeit in Einzelhaft befinden?
geb. 1970, Jurist und seit 2008 Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (IHD).
Nein. Die Zahl ändert sich stetig, da einige nur für eine kurze Zeit in Einzelhaft bleiben und anschließend auf größere Zellen mit mehreren Insassen verteilt werden.
Mit welcher Begründung werden Journalist*innen unter solchen Bedingungen inhaftiert?
Im Rahmen der Terrorbekämpfungsgesetze, also mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda. Deshalb werden unter anderem Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet in der Strafvollzugsanstalt in Silivri unter extremen Bedingungen gehalten. Der Besuch von nahen Angehörigen – ohne Trennscheibe dazwischen – findet nur alle zwei Monate statt. Dabei wurde der Erlass, laut dem Strafgefangenen sozialer Kontakt zusteht, nie aufgehoben. In Silivri aber gilt er nicht. Diese Form der Isolationshaft ist eine unangemessene Behandlung und wird von mehreren unabhängigen Stellen mit Folter gleichgesetzt.
Viele Journalisten befinden sich derzeit in Gefängnissen des sogenannten F-Typs.
In der Türkei gibt es derzeit 14 Strafvollzugsanstalten dieses Typs, also Hochsicherheitsgefängnisse. Hier leben Menschen unter härtesten Bedingungen: 5 bis 6 Personen werden in Zellen für 3 untergebracht, in anderen Fällen 20 bis 30 in Zellen für 8 oder 10 Personen. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist die Lage noch schlimmer geworden. Interessant ist, dass einerseits die Gefängnisse vollkommen überlastet sind – und andererseits Inhaftierte tagelang isoliert gehalten werden können. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) ist befugt, einmal im Jahr die Haftbedingungen vor Ort zu dokumentieren und mit den Inhaftierten zu sprechen. Anschließend wird diese Dokumentation an die türkische Regierung übergeben, was allerdings keinerlei Konsequenzen hat.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat schon mehrfach Staaten gerügt, wenn sie Gefangene über längere Zeit in anregungsarmer Isolationshaft hielten. Der Gerichtshof sieht darin einen Verstoß gegen das „Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist.
So wurde die Türkei 2014 verurteilt, weil sie PKK-Gründer Abdullah Öcalan bis 2009 jahrelang allein auf der Gefängnisinsel Imrali festhielt. Auch Polen wurde 2012 gerügt, weil es „gefährliche“ Gefangene über Jahre in Isolationshaft hielt, „ohne ausreichende geistige und physische Anregung“. Dies sei für die Gewährleistung der Sicherheit nicht notwendig.
Im Fall des propalästinensischen Terroristen „Carlos“ sah der Gerichtshof 2006 dagegen keine Verletzung der Konvention. Carlos war acht Jahre in französischer Isolationshaft untergebracht und hatte keinen Kontakt zu anderen Gefangenen. Er verfügte jedoch über einen Fernseher, Zeitungen und durfte Besuche von Familie und Anwälten empfangen. Der Staat wurde verpflichtet, den Zustand des Gefangenen zu überwachen und die Isolationshaft regelmäßig zu überprüfen. (chr)
Deniz Yücel, Korrespondent der Welt, befindet sich seit Anfang März in einer Einzelzelle in Untersuchungshaft. Wie schätzen Sie seinen Fall ein?
Nun, wenn Sie inhaftiert werden, ist es üblich, dass Sie die ersten 24 Stunden in Einzelhaft kommen. Diese Frist darf nicht überschritten werden. Danach kommen Sie mit anderen ähnlich gelagerten Fällen in eine größere Zelle. Herr Yücel ist leider das letzte Opfer einer Regelung, nach der Sie bereits im Vorfeld bestraft werden können, auch wenn ihre Schuld noch nicht bewiesen ist. Und es ist sehr mühsam, sich gegen diese Behandlung aufzulehnen. Bereits zuvor wurden Bürgermeister*innen, Abgeordnete und Journalist*innen in dieser sehr harten Form isoliert.
Wie lebt Deniz Yücel?
Herr Yücel befindet sich momentan wie weitere 152 Journalist*innen und Medienmitarbeiter*innen, 13 Abgeordnete und 60 Bürgermeister*innen in Haft. Die meisten von ihnen wissen noch nicht einmal, aus welchen Gründen. Allen wird die Unterstützung von Terrororganisationen vorgeworfen, dabei ist der konkrete Name der Organisation mittlerweile egal. Die verschärfte Einzelhaft, also die Isolationshaft, verstößt in erster Linie gegen die Menschenwürde. Zudem wirkt sich eine solche Haft, je länger sie dauert, erheblich auf die psychische Verfassung aus; dazu gibt es viele wissenschaftliche Untersuchungen. Noch mal: Eigentlich dürfen Inhaftierte nur für einen Tag unter diesen Bedingungen gehalten werden – was derzeit Herrn Yücel widerfährt, ist eine vollkommen willkürliche Anordnung und widerspricht türkischem Recht.
taz.gazete ist ein deutsch-türkischsprachiges Nachrichtenportal. Dort schreiben täglich Journalist*innen aus der Türkei und der Diaspora. Ziel ist es, die Meinungsvielfalt stärken. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Türkisch, um kritische Stimmen zu unterstützen. Hier geht es lang: gazete.taz.de.
Können unabhängige Beobachter zurzeit überhaupt in die Strafvollzugsanstalten in der Türkei?
Wir erhalten über die Anwälte der Inhaftierten Informationen über den Zustand in den Strafvollzugsanstalten; Besuche und Gespräche sind uns nicht gestattet. Vor allem seit dem 15. Juli hören wir vielfach von Foltervorwürfen und unangemessener Behandlung, vor allem für diejenigen, die mit Anhängern von Fethullah Gülen in Verbindung gebracht werden. Es gibt derzeit keine Organisation und auch keinen Ausschuss, der diesen Vorwürfen vor Ort nachgehen könnte.
Also auch keine Ausschüsse der Regierung in Ankara?
Schon vor dem Putschversuch gab es eine Monitoringstelle Strafvollzug und Zuchthaus, die an das Justizministerium angeschlossen war. Allerdings wurde die Arbeit der bisherigen Mitglieder am 1. September 2016 per Notstandsdekret beendet. Mittlerweile wurden neue Mitglieder bestimmt, und die Stelle untersteht jetzt dem Justizministerium und liefert ihre Berichte dorthin. Somit ist eine wirksame Kontrolle nicht gegeben. Vor knapp einer Woche wurden zudem die Mitglieder der Menschenrechts- und Gleichstellungskommission bestimmt. Acht kommen von der Regierungspartei AKP, weitere drei wurden durch Präsident Erdoğan persönlich ausgewählt. Solcherart beeinflusst, ist eine Kommission kaum fähig, unabhängig und unparteiisch zu arbeiten. Sie ist zwar befugt, Untersuchungen in den Strafvollzugsanstalten durchzuführen – aber niemand weiß, wann sie damit beginnen wird. Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments setzt sich ähnlich zusammen und wird seiner eigentlichen Aufgabe ebenfalls nicht gerecht. So ist eine gründliche Beobachtung und Prüfung der Gefängnisse kaum möglich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin