Menschenrechtlerin zu Gewalt an Frauen: „Die Konvention ist ein Meilenstein“
Die Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen gilt seit zwei Jahren in Deutschland. Die Menschenrechtlerin Heike Rabe meint, es hapere an der Umsetzung.
taz: Frau Rabe, wissen wir in Deutschland genug darüber, wie und warum Frauen von ihren Partnern umgebracht werden?
Heike Rabe: Wir wissen mittlerweile vieles über Tötungsdelikte, Körperverletzungen und Sexualdelikte in polizeilichen Ermittlungsverfahren. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Daten, die laut Istanbul-Konvention eigentlich erhoben werden müssten. Wir müssten insbesondere bei den Rechten der betroffenen Frauen viel stärker ins Detail gehen: Wie viele Frauen haben vom Täter oder vom Staat Schadenersatz bekommen? Wie oft konnten die Frau und ihre Kinder in der eigenen Wohnung bleiben? Wie häufig nehmen sie eine medizinische Versorgung in Anspruch? Und falls Maßnahmen wie diese ergriffen wurde: Was hat es genützt? All das können wir momentan nicht systematisch beanworten.
Gibt es in Deutschland genügend Beratungsstellen für gewaltbetroffene Frauen, genügend Frauenhausplätze und ausreichende Akutversorgung in Fällen von sexualisierter Gewalt?
Was Sie aufzählen, sind alles Aspekte einer umfassenden Infrastruktur gegen Gewalt an Frauen, wie sie die Istanbul-Konvention vorgibt. In all diesen Bereichen gibt es in etlichen Bundesländern sehr unterschiedliche Einschätzungen von staatlichen Stellen und der Zivilgesellschaft über die Frage, ob die derzeitige Versorgung ausreichend ist. Schon 2012 hat eine Studie empfohlen, die Bedarfe konkret zu analysieren und zu planen.
Die Istanbul-Konvention ist für alle Gerichte verpflichtend. Wird sie ausreichend angewandt?
Auch in Bezug auf die Rechtssprechung müssen wir leider sagen: Obwohl sie ein völkerrechtliches Instrument ist und damit den JuristInnen in Gerichten oder Staatsanwaltschaften vertraut sein sollte, gibt es hier noch Luft nach oben.
Wie kann es angesichts all dessen sein, dass sich die Bundesregierung auf den Standpunkt stellt, die Istanbul-Konvention sei rechtlich bereits umgesetzt – und man müsse nur nachsteuern?
Mit der Ratifikation erklärt ein Land, dass es seine Gesetze der Konvention angepasst hat. Das hat Deutschland zum Beispiel durch die Reform des Sexualstrafrechts 2017 gemacht: Erst seitdem kann sexuelle Belästigung angezeigt werden, seitdem gilt Nein heißt Nein, wie es die Konvention vorschreibt. Die Umsetzung einzelner Maßnahmen und der Aufbau von Infrastruktur kann auch nach der Ratifizierung passieren.
Heike Rabe ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/ Europa am Deutschen Institut für Menschenrechte und arbeitet zu geschlechtsspezifischer Gewalt.
Ist diese Position nicht trotzdem ein Problem? Wenn die Bundesregierung kommuniziert, die Konvention sei bereits umgesetzt, gibt es scheinbar keinen Handlungsdruck.
Die volle Verwirklichung von Menschenrechten ist immer ein Prozess. Zuerst werden die Gesetze konventionskonform ausgestaltet, dann muss der Ausbau von Infrastruktur folgen.
Die Konvention ist seit zwei Jahren in Kraft, sie ist das erste völkerrechtlich bindende Instrument im europäischen Raum gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Was macht sie so besonders?
Sie ist die Essenz aller völker- und menschenrechtlichen Normen gegen Gewalt an Frauen. Der rechtliche Bestand zum Beispiel aus der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW oder der europäischen Menschenrechtskonvention wurde zusammengefasst, zudem wurden die Erfahrungen aus der Praxis berücksichtigt. Das sieht man der Konvention an: Sie ist das modernste Instrument in Bezug auf die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie ist ein Meilenstein. Ihr umfassender Ansatz bietet die Chance, die klassischen Felder des Gewaltschutzes zu erweitern.
Inwiefern?
Die Konvention weitet den Blick zum Beispiel auf Frauen außerhalb des klassischen Hilfesystems. Da kommen Konzepte und zum Teil auch das Recht an Grenzen. Für Frauen in Pflegeheimen, in Flüchtlingsunterkünften, in der Psychiatrie oder in der Behindertenhilfe müssen dieselben Schutzstandards gelten wie für Frauen in Privatwohnungen. Auch dort gibt es sexuelle Übergriffe, aber auch der Täter ist möglicherweise betreuungsbedürftig. Dafür brauchen wir bundesweit Konzepte und haben mit dem Rückhalt der Konvention die Möglichkeit, sie zu schaffen.
Wenn die Konvention ein solcher Meilenstein ist – woran liegt es dann, dass sie in der Öffentlichkeit eher unter dem Radar läuft?
Den Eindruck habe ich gar nicht. Im Vergleich zu anderen Menschenrechtskonventionen wie der UN-Frauenrechtskonvention erreicht sie nach erst zwei Jahren eine große Aufmerksamkeit.
Gab es konkrete Verbesserungen, seit sie in Kraft ist?
Es gibt zum Beispiel einen sehr schönen Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg, der die Konvention idealtypisch anwendet. So etwas müsste viel mehr passieren.
Was ist in Hamburg passiert?
Ein Mann wollte seine Frau in der Badewanne umbringen. In Fällen häuslicher Gewalt stellen Staatsanwaltschaften die Verfahren sehr häufig folgenlos für die Täter ein. Das hat auch damit zu tun, dass viele Frauen zwar anzeigen, in den Hauptverhandlungen aber nicht mehr aussagen wollen – zum Beispiel weil sie Angst vor dem Täter haben. Nun verpflichtet die Konvention die Staaten, wirksame Strafverfahren zu gewährleisten. Und es ist möglich, dass ein Richter oder eine Richterin in einer frühen Phase des Verfahrens die Frau vernimmt, um später in der Hauptverhandlung selbst wiedergeben zu können, was sie gesagt hat. Das OLG Hamburg hat mit Verweis auf die Konvention entschieden, dass solche sogenannten richterlichen Vernehmungen in schweren Fällen häuslicher Gewalt durchgeführt werden müssen.
Gibt es noch mehr Beispiele?
Mit Bezug auf die Konvention passiert gerade viel. Politik und Zivilgesellschaft beziehen sich auf Konferenzen und Fachtagungen sehr häufig auf sie. In den Koalitionsverträgen einiger Länder taucht sie auf, und Länder prüfen, ob ihre Aktionspläne den Anforderungen der Konvention genügen. Sie gehen der Frage nach, wie viele Beratungsstellen und Frauenhausplätze sie vorhalten müssen. Oder sie entwickeln einen Aktionsplan Gewaltschutz und richten eine landesweite Koordinierungsstelle dafür ein wie in Bremen. Zudem merken viele Berufsgruppen, dass sich etwas verändert. Ich war kürzlich auf einer Fachtagung von Polizei und Justiz, dort hieß es von der Polizei: Die Frage ist nicht mehr, ob wir regelmäßig mit allen Beteiligten abgestimmte Risikoanalysen erstellen, wenn Frauen stark gefährdet sind – sondern nur noch, wie. Allerdings: All das läuft gerade erst an. Deswegen und insbesondere wegen der lückenhaften Datenlage hat uns das Bundesministerium für Frauen damit beauftragt, in diesem Jahr ein Konzept für eine Monitoringstelle zu erarbeiten.
Wie gehen Sie vor?
Wir erarbeiten ein Konzept, mit dem man systematisch beobachten kann, wie Deutschland bei der Umsetzung der Konvention vorankommt. Momentan geht es noch gar nicht um das Monitoring selbst, sondern darum, zu schauen, welche Aufgaben und Befugnisse so eine Stelle hat, welche Daten sie sammelt, welche Forschungsschwerpunkte sie setzt und in welchen Strukturen sie arbeiten soll.
Dieses Jahr steht für Deutschland das erste Monitoring von Seiten des Europarats an. Was passiert da?
Bis Juni muss die Bundesregierung Fragen eines ExpertInnengremium des Europarates beantworten, inwieweit Deutschland die Konvention umgesetzt hat. Neben der Bundesregierung können auch AkteurInnen der Zivilgesellschaft die Fragen beantworten – es gibt ja ein Bündnis, das die Umsetzung begleitet und das die Umsetzung naturgemäß anders bewerten wird als die Regierung. 2021 kommen die ExpertInnen dann eine Woche nach Deutschland und geben dann anschließend in einem Bericht Empfehlungen für die weitere Umsetzung der Konvention in Deutschland ab.
Was erwarten Sie?
Es gibt schon Berichte über andere Länder wie zum Beispiel Österreich, Dänemark Frankreich oder Schweden, an denen man sehen kann, welche Schwerpunkte das Gremium setzt. Deutschland wird ganz klar die Empfehlung bekommen, seine Datenlage zu verbessern. Ein zweiter Schwerpunkt wird sein, Strukturen zu schaffen, also zum Beispiel eine Koordinierungsstelle einzurichten, die die staatlichen Aktivitäten gegen Gewalt gegen Frauen effektiver macht.
Was genau heißt Empfehlung?
Deutschland hat sich zwar verpflichtet, die Konvention umzusetzen und sich mit den Empfehlungen auseinanderzusetzen. Aber wenn es das nicht tut, gibt es keine rechtlichen Sanktionen.
Man hat also nichts in der Hand.
Das würde ich so nicht sagen. Die Zivilgesellschaft kann mit den Empfehlungen weiter Lobbyarbeit machen. Ich gehe davon aus, dass sie auch von staatlicher Seite diskutiert werden. Aber das hängt vom politischen Willen ab. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention ist eine Daueraufgabe für die nächsten Jahrzehnte.
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