Menschenrechtler über Israel: „Wir werden diffamiert“
Auch ohne Netanjahu wird sich für die Palästinenser nichts ändern, sagt Hagai El-Ad. Warum die Besatzung andauern wird und Gespräche kein Selbstzweck sind.
taz: Herr El-Ad, am Dienstag wird in Israel gewählt. Setzen Sie Hoffnungen auf einen Regierungswechsel?
Hagai El-Ad: Man sollte nicht so tun, als wäre allein Netanjahu das Problem. Israel kontrolliert die besetzten Gebiete seit über 47 Jahren: von außen in Gaza, im Westjordanland durch militärische Besatzung und in Jerusalem durch Annexion. Es ist verstörend, dass dies im Wahlkampf kein Thema war – besonders, wenn man bedenkt, dass der letzte Gazakrieg erst wenige Monate zurückliegt. Den einzigen Streit, den es gab, war, ob es Friedensverhandlungen mit den Palästinensern geben soll oder nicht.
Aber ist das nicht zentral?
Verhandlungen sind ja kein Selbstzweck. Und in der Vergangenheit haben sie nur dazu geführt, das Besatzungsregime zu verlängern und auszubauen. Insofern bin ich skeptisch, ob sich daran selbst nach einem Regierungswechsel etwas ändern wird.
Mehrere Staaten der EU haben Palästina als Staat anerkannt. Wächst damit nicht der Druck auf Israel, endlich einzulenken?
Die Anerkennung Palästinas ist ein symbolischer Schritt. Er hat keinerlei Auswirkungen auf den Alltag eines durchschnittlichen Israelis.
Wie sollte die Welt also reagieren?
Zuerst einmal muss die Welt begreifen, dass es sich nicht um eine temporäre Besatzung handelt. In der Regel sollte ein Besatzungsregime ja zeitlich befristet sein, um einen geordneten Übergang vom Krieg zum Frieden zu gewährleisten. Und am Anfang, nach dem Sechstagekrieg von 1967, machte dieser Begriff ja auch Sinn. Heute aber nicht mehr.
ist seit 2014 Direktor des Menschenrechtsvereins B’Tselem („Ebenbild“). Er war Mitbegründer des ersten schwul-lesbischen Zentrums in Jerusalem, dann leitete er sechs Jahre die Association for Civil Rights in Israel (Acri).
Sondern?
Die Realität heute ist: Es gibt ein Recht, das für Palästinenser gilt – und eines für Israelis. Das Wahlrecht schreibt zum Beispiel vor, dass Israelis nur in Israel selbst wählen dürfen. Aber die Siedler im Westjordanland können in ihren Siedlungen wählen, und sie fallen auch unter israelisches Zivilrecht, die Palästinenser dagegen unter die Militärgerichtsbarkeit oder jordanisches Recht, je nachdem. Das widerspricht dem Grundsatz, dass jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist.
Das klingt nach einem Apartheidsystem. Was ist das Ziel dieser Politik?
Das Ziel ist, so viel Land wie möglich zu kontrollieren und sich so wenig wie möglich um die Palästinenser kümmern zu müssen. Das Ergebnis sind verschiedene, separierte Enklaven – wie ein Schweizer Käse voller Löcher, und die Palästinenser leben in den Löchern. Der Vorteil dabei ist, dass Israel damit durchkommt, ohne einen Preis dafür bezahlen zu müssen.
Halten Sie eine Zweistaatenlösung noch für realistisch – und überhaupt wünschenswert?
Es gibt verschiedene Szenarios, die denkbar sind. Unser Standpunkt ist: Wenn die Menschenrechte aller geachtet werden, dann sind wir zufrieden.
B’Tselem existiert seit 25 Jahren. Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
Wir sind dazu übergegangen, nicht nur die Menschenrechtsverletzungen unter dem Besatzungsregime, sondern die Besatzung selbst anzuprangern. Wir haben Hunderte Freiwillige mit Kameras ausgestattet, um Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten zu dokumentieren. Rund ein Drittel unserer Mitarbeiter sind Palästinenser. Ich bin erst seit Juni im Amt, und natürlich würde ich gerne der letzte Direktor von B’Tselem sein – dass sich unsere Arbeit erübrigt. Aber ich bin skeptisch, ob das gelingt.
Wie stark hat der Druck auf Menschenrechtsgruppen wie Ihre unter Netanjahu zugenommen?
Im Vergleich zu Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen geht es uns gut. Aber es stimmt, die Regierung betrachtet uns als Problem. Sie versucht, uns zu diffamieren und zu verleumden. Das ist einfacher, als sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Ich nehme das als Zeichen dafür, dass wir effektiv sind.
B’Tselem hat die Regierung in einem Bericht jüngst für den Tod Hunderter palästinensischer Zivilisten während des Gazakrieges im vergangenen Sommer verantwortlich gemacht. Warum?
Wir sind überzeugt, dass die Bombardements von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur im Gazastreifen nicht das Ergebnis individueller Verfehlungen einzelner Soldaten waren, sondern einer politischen Entscheidung der Regierung. Deshalb ist es hochgradig zynisch, wenn der Militärstaatsanwalt jetzt angekündigt hat, dass er ermitteln will, ob es ein Fehlverhalten des einen oder anderen Soldaten gegeben habe. Die Politiker, die dafür verantwortlich sind, sollten dafür geradestehen. Und ein externer, ziviler Staatsanwalt sollte das überprüfen.
Und wenn nicht?
Wir wissen aus Erfahrung, wohin das führt. Auch nach der letzten Intervention in den Gazastreifen gab es ernste Fragen, was Menschenrechtsverstöße beider Seiten betraf. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Das Ergebnis war, das wir eine Wiederholung der Gewalt erlebt haben.
Die Regierung wirft Menschenrechtlern wie Ihnen vor, einseitig zu sein.
Wir lehnen jede Gewalt gegen Zivilisten gleichermaßen ab, und verurteilen auch die Raketen aus dem Gazastreifen, die auf israelische Zivilisten abgefeuert werden. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass Israel am längeren Hebel sitzt: Es kann jederzeit Steuern einbehalten oder den Palästinensern im Westjordanland für ein paar Stunden am Tag den Strom abstellen oder ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Um etwa die Stadt Dschenin von der Außenwelt abzuschneiden, braucht es gerade mal eine Handvoll Soldaten. Die Situation ist nicht ausgewogen.
Auch regierungsnahe Organisationen wie NGO Monitor ziehen Ihre Unabhängigkeit in Zweifel.
Es ist eine regelrechte Industrie solcher Organisationen entstanden, deren Aufgabe es ist, uns zu diffamieren. Keiner weiß, wer dahintersteckt. Sie werfen uns vor, dass wir innere Angelegenheiten Israels nach außen tragen. Das ist zynisch, denn die Besatzung ist keine interne Angelegenheit, sondern ein internationaler Konflikt.
Diese Kritiker werfen Ihnen auch vor, dass sie zum Teil aus dem Ausland finanziert werden.
Das ist auch zynisch. Schauen Sie sich die Liste der Spender an, die Netanjahus Wahlkampf finanzieren. Oder die Siedlerorganisationen, die von evangelikalen Christen aus den USA unterstützt werden. Diese Kritiker haben nichts gegen ausländisches Geld, solange es ihrer Agenda zugutekommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid