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„Menschen streben nicht nur nach individuellem Glück“

Die Soziologin Hilke Brockmann hat für ihre „Encyclopedia of Happiness“ die Wirkung des Eisbadens auf die mentale Krisenfestigkeit ebenso erforscht wie die Ethik des Wohlbefindens. Denn Glück hat eine starke soziale Komponente

Mit Studien hat sich schon Albrecht Dürer daran herangetastet, wie das große Glück aussehen soll Foto: Dürer/zeno.org

Interview Petra Schellen

taz: Frau Brockmann, haben sich Art und Intensität des Glücksstrebens im Lauf der Geschichte verändert?

Hilke Brockmann: Die Intensität – die Suche nach förderlichen Umgebungen und Situationen – ist ein universeller Antrieb des Menschen. Die Art verändert sich aber, weil sich die Umgebung verändert, auf die wir reagieren.

taz: Ist das Glücksstreben Einzelner Ursache oder Lösung von Krisen?

Brockmann: Sowohl als auch. Einerseits ist Depression eine Reaktion auf äußere Umstände, die nicht förderlich sind. Andererseits ist Glücksstreben ein Antrieb, uns aus dieser Misere herauszukatapultieren. Der Glücks- bzw. Wohlbefindensforschung wird oft vorgeworfen, dass sie nur das Positive erforscht. Dabei untersuchten wir natürlich auch das Unglück. Denn Krieg, Klimawandel und die Polykrisen sind oft die Motivation, eine Situation zu verändern.

taz: Existiert eine allgemeingültige Definition von Glück?

Brockmann: Nach jahrtausendelanger Forschung geht man heute davon aus, dass Glück ein Bewertungsmechanismus ist, den jedes bewegliche Wesen vornimmt. Das können Beurteilungen der Umgebung sein, aber auch Erinnerungen oder Vorstellungen. Dabei verändert sich unsere Umwelt ständig, sodass wir das Level, ab dem wir glücklich beziehungsweise zufrieden sind, ständig neu ausrichten müssen.

taz: Hat Glück nicht auch eine emotionale Komponente?

Brockmann: Doch, in Form des schnellen Feedbacks – etwa bei der Zuführung von Zucker oder Fetten. Das gibt erst mal einen Kick und großes Glücksempfinden. Aber zwischen der emotionalen und der kognitiven Beurteilung besteht kein grundlegender Unterschied. Vielmehr ist es ein Prozess im Gehirn, der sich auf andere Bereiche auswirkt. Wir kontrollieren zum Beispiel bestimmte Emotionen wie den Drang nach Schokolade erfolgreich. Auch andere Kulturtechniken zielen darauf, Impulsen zu widerstehen, um langfristige Ziele zu erreichen.

taz: Aber ist es dasselbe, ob ich auf Schokolade reagiere oder einen Friedensschluss?

Brockmann: Ja. Allerdings ziehe ich jeweils andere Informationen heran. Bei einem Krieg, der mich nicht unmittelbar betrifft, muss ich mir erst mal vergegenwärtigen, wie andere Menschen leiden. Für diesen kognitiven Vorgang nutze ich andere Hirnareale, als wenn ich über die Frustration nachdenke, keine Schokolade zu essen. Trotzdem sind beide Bereiche im Gehirn vernetzt. Denn auch mein Mitgefühl für Kriegsopfer löst – auf einer anderen Ebene – Trauer und Unglück aus. Wobei ich ja nur als Soziologin sprechen kann.

taz: Was sagen die Neurologen?

Brockmann: Sie haben die Prozesse im Gehirn noch nicht ganz ergründet. Im MRT sehen sie zwar Stoffwechselprozesse. Aber es ist unklar, warum bestimmte Regionen angesprochen werden, andere nicht. Teile der Großhirnrinde sind älter als der präfrontale Cortex. Mit Letzterem haben wir Gedächtniskapazität dazugewonnen, was uns erlaubt, abstrakt zu denken. Andere, evolutionär ältere Bereiche des Gehirns teilen wir mit Lebewesen, die es schon vor uns gab. Dort finden Emotionen reflexhaft statt – wie das Zurückziehen der Hand von der Herdplatte. Aber in beiden Hirnarealen findet eine Positiv-Negativ-Entscheidung statt. Diesen Mechanismus nutzt die Glücksforschung, um zu sehen: Mögen Leute das oder nicht?

taz: Glück wird also eher als Wohlbefinden definiert?

Brockmann: Inzwischen ja. In der griechischen Antike suchte man noch eine substanzielle Definition von Glück: Was ist das Höchste, das erstrebenswert ist? Davon ist man heute abgerückt, weil es schwer zu definieren ist. Was man aber sieht: dass Menschen einiges als positiver empfinden als anderes. Das macht das Glück irdischer und das beurteilende Subjekt zum eigentlichen Experten. Folglich betreibt man empirische Forschung und fragt Leute, ob sie glücklich sind. Dieser Perspektivwechsel vom „objektiv erreichbaren“ zum subjektiv empfundenen Glück ist substanziell.

taz: Und wie gelingt eine „Ethik des Wohlbefindens“, die Ihre „Enzyklopädie des Glücks“ postuliert?

Foto: privat
Hilke Brockmann

60, Soziologin, ist seit 2006 Professorin an der Constructor University, Bremen, Herausgeberin der „Encyclopedia of Happiness, Quality of Life and Subjective Wellbeing“ in der Reihe der „Elgar Encyclopedias in the Social Sciences“.

Brockmann: Schon Aristoteles hat gefragt: Kann schlechtes Verhalten ethisch richtig sein oder muss man differenzieren? Die Glücksforschung zeigt, dass Menschen nicht nur nach individuellem Glück streben, sondern in vielen Glücksbestrebungen sozial sind und das gute Empfinden mit anderen teilen wollen. Deshalb widmen sich viele dem Ehrenamt, der gemeinsamen Religionsausübung, dem gemeinsamen Musizieren.

taz: Aber driftet unsere Gesellschaft nicht eher auseinander? Vereinsmitgliedschaften, Ehrenamt, sogar Blutspenden gehen zurück.

Brockmann: Schwer zu sagen. Jedenfalls ist belegt, dass Menschen, die ehrenamtlich arbeiten, sehr zufrieden sind. Wir sehen, dass Spenden glücklich macht – und Aktivitäten in nicht-hierarchischer Gemeinschaft unter Freunden: Da, wo sie nicht um Status, Anerkennung, Aufmerksamkeit buhlen müssen.

taz: Aber gesamtgesellschaftlich schwindet der Altruismus eher.

Brockmann: Ja, Egoismus und Ehrgeiz sind schon stark. Die neoliberale Ideologie hat das in der westlichen Kultur lange propagiert, indem es hieß: „Die Leute treibt egoistisches Interesse an.“ Westliche Kulturen haben das Kompetitive extrem herausstellt und das Kollektive abgewertet. Weil sich sonst angeblich jeder der Verantwortung entziehen und in die soziale Hängematte legen würde. Das ist eine sehr einseitige Sicht. Denn wir sind zutiefst sozial und können nur gut existieren, wenn wir Leute haben, die sich am Anfang und am Ende unseres Lebens um uns kümmern. Diese gegenseitige Großzügigkeit gehört zum Menschsein dazu. Dabei sind wir uns der eigenen Endlichkeit sehr bewusst – eine große Frustration für das Ego. Die Suche nach Sinn scheint in allen Kulturen die Rezeptur zu sein.

„Wichtig ist, dass man das Aufhören des Schmerzes nicht zur Voraussetzung für das Glücklichsein macht“

taz: Ein Kapitel Ihres Buchs lautet „physischer Schmerz und Glück“. Wie geht das zusammen?

Brockmann: Viele Menschen haben chronische Schmerzen. Die Ursache ist oft harmlos, und sie müssen lernen, sich damit zu arrangieren. Eine Relativierung – den Schmerz aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – funktioniert durchaus. Wichtig ist, dass man das Aufhören des Schmerzes nicht zur Voraussetzung für das Glücklichsein macht. Eine Methode ist der im Buch erwähnte Cold Comfort.

taz: Das bedeutet?

Brockmann: Eine finnische Forscherin beschreibt das in ihrem Land beliebte Eisbaden. Es ist eine Methode, die eigene Abwehr zu überwinden. Wenn man den Impuls, das kalte Wasser zu meiden, überwindet, bekommt man ein Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Und dann kann man auch sein Kreisen um den Schmerz überwinden. Das heißt: Ich kann etwas schaffen, von dem ich dachte, ich schaffe es nicht. Ich erfahre, dass ich unter widrigen Bedingungen überleben kann und die Krise die physischen und mentalen Abwehrkräfte stärkt.

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