Mein Kriegsende 1945: „Ich wurde sehr schnell erwachsen“
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 15): Edith Kiesewetter sah auf den Straßen überall Leichen. Sie erlebte, dass Unrecht mit Unrecht vergolten wurde.
Edith Kiesewetter, Jahrgang 1935, wurde im Juni 1945 Opfer der wilden Vertreibung und kam aus dem Sudetenland in die sowjetische Zone Deutschlands. Nach dem Abitur studierte sie Landwirtschaft und arbeitete später in einem Institut der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften in Ostberlin. Sie heiratete und bekam eine Tochter:
„Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte ich in meiner Geburtsstadt Neuditschein, heute unter dem Namen Nový Jičín in Tschechien gelegen. Die sowjetische Front näherte sich von Schlesien und es kam zum heftigen Schusswechsel. Aus diesem Grunde richtete sich unsere Familie im Keller häuslich ein. Die Stadt fiel am 6. Mai 1945. Da meine Eltern die Gaststätte des Hotels Hirsch bewirtschafteten, kamen die Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr die Kellertreppe hinunter. Sie suchten Alkohol und Frauen. Der Krieg war beendet und drei Tage lang hielten die Plünderungen an.
Trotz des Zweiten Weltkrieges hatte ich eine glückliche Kindheit erlebt. Auf einmal geschahen Dinge, die ich als Neunjährige nicht verstand. Meiner Neugier folgend ging ich am 7. Mai auf die Straße und war entsetzt, welche Greuel Tschechen an Deutschen verübten. Menschen wurden verprügelt. Überall lagen Leichen. Einige Menschen wurden dazu gezwungen, Nazi-Lieder bis zu ihrer Erschöpfung zu singen. Ich begriff, dass mir meine Eltern keine Sicherheit mehr geben konnten. So wurde ich sehr schnell erwachsen.
Trotzdem hatten wir Glück im Unglück. In der Zeit vom 7. zum 8. Mai wurde im Hotel die sowjetische Kommandantur eingerichtet. Meine Mutter musste für die Offiziere kochen. Dadurch hatten wir, im Gegensatz zu vielen anderen Deutschen, etwas zu essen. Die Plünderungen und die Belästigungen der Frauen hörten auf.
Was ich erst viel später begriffen habe, war, dass diese Taten der Tschechen von Emotionen und ihrem nationalen Empfinden durch das Münchner Abkommen im Jahr 1938 geprägt waren. Es war die Vergeltung für Lidice und andere Terrorakte der Nationalsozialisten. Die Taten von Sowjetsoldaten basierten auf dem Leid, das die Wehrmacht in der UdSSR angerichtet hatte. Leider wurde Unrecht mit Unrecht vergolten.“
Zuletzt erschienen:
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!