Mehrsprachigkeit in spanischen Schulen: Kollektiv gegen den Trend
In Madrid boomen zweisprachige Schulen. Wer nicht in das Programm aufgenommen wird, verliert Schüler – oder macht alles anders.
Stattdessen erlauben sich die Lehrer hier ihre eigenen Unterrichtsmethoden – und wechseln sich ab als Schulleiter. Wer gerade das Amt ausübt, stellt seinen Gehaltszuschlag für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung. Was die Schule noch von vielen anderen Madrider Schulen unterscheidet: An ihr wird nach wie vor überwiegend auf Spanisch unterrichtet.
Die Zweisprachigkeit boomt in der Hauptstadt – und die konservative Landesregierung fördert sie massiv, indem sie die Schulen auswählt, die an dem Programm teilnehmen dürfen. Und das sind allen voran öffentliche Schulen mit den Konservativen wohlgesinnten Schulleitern und staatlich subventionierte – meist katholische – Privatschulen. Nachdem Madrider Eltern ihre Kinder nicht auf die Schule im Stadtteil schicken müssen, sondern eine in der gesamten Region – zehnmal so groß wie Berlin – auswählen können, entsteht ein starker Wettbewerb zwischen den Schulen.
Mittlerweile ist jede zweite Schule in Madrid zweisprachig. Künftig sollen gar die Vorschulen ins Programm eingegliedert werden. Die Grundschule Palomeras Bajas ist eine der Schulen, die den Druck noch nicht so stark spüren wie andere „einsprachige“ Schulen. Und das liegt an ihrem Profil.
Astronauten per Skype
„Wir gehören zu einem Netzwerk von 15 Schulen in der Region Madrid, die anders arbeiten“, erklärt Ana Recover, die seit 39 Jahren am Palomeras Bajas unterrichtet. „Innovación educativa“ – „Neuerung der Bildung“ heißt die Bewegung, die bereits in den letzten Jahren der spanischen Diktatur, die 1975 mit dem Tod von General Franco endete, eingeführt wurde. Und das funktioniert, erklären Recover und ihre Kollegen, durch Basisdemokratie. Alle Klassen halten regelmäßig Versammlungen ab, auf denen Probleme besprochen werden. Einmal die Woche treffen sich die Vertreter aller Klassen, um über Schulorganisation zu sprechen. Jeder kommt mal dran. Die Lehrer wiederum entscheiden in Vollversammlung über Unterrichtsmethoden.
Wenn er über seinen Unterricht spricht, gerät Recovers Kollege Oscar Aljama ins Schwärmen: „Die Schüler bekommen einen Arbeitsplan mit Inhalten aus allen Fachbereichen. Die Kleinen täglich, die Größeren alle zwei Wochen.“ Jeder beschließt selbst, wie er allein oder mit anderen den Plan abarbeitet. Der Lehrer, ergänzt Recover, ist eher eine helfende Begleitperson als ein Dozent an der Tafel: „Je weniger ein Lehrer spricht, um so besser“, zitiert die Lehrerin ihren Lieblingspädagogen, den Franzosen Célestin Freinet.
Rodrigo J. García, Pädagoge
Per Skype interviewten die Kinder den ersten spanischen Astronauten. Der Großvater einer Romaschülerin – Patriarch seine Clans – kam an die Schule und stand dort Rede und Antwort zu Sitten und Gebräuchen der Minderheit. „In Sport fragten die Kinder ihre Großeltern, mit was sie einst ihre Zeit verbrachten“, erzählt Aljama. Die Kinder spielten anschließend Seilspringen im Unterricht.
„Es ist unglaublich, wie zufrieden meine beiden Kinder nach Hause kommen“, berichtet Eva Bajo. „Sie lernen mit Begeisterung und berichten, was sie ‚entdeckt‘ haben.“ Die 42-Jährige ist selbst vom Fach. Sie ist Technologielehrerin an einer Oberschule nur wenige Straßenzüge von der Palomeras Bajas entfernt. In ihrer Freizeit betreibt sie an der Kollektivschule die Bibliothek, gehört der „Kommission für Außenkontakte“ an.
„Die älteste Tochter haben wir zuerst in eine der zweisprachigen Schulen geschickt“, erzählt Bajo. So wie die meisten Eltern achteten Bajo und ihr Mann auf einen guten Englischunterricht. Alles andere war zweitrangig. „Fremdsprachen sind ein großes Problem in Spanien, die zweisprachigen Schulen versprechen, dieses Manko endlich zu lösen“, sagt Bajo. Das jedoch hat einen Preis. Nach einem Jahr wechselte die Tochter auf die Palomeras Bajas. „Kann sein, dass sie mehr Englisch gelernt hat als an einer nichtzweisprachigen Schule“, sagt Bajo. „Aber die Inhalte in den Fächern, die auf Englisch unterrichtet wurden, kamen zu kurz.“ Statt experimentellem Lernen wurde in Naturwissenschaften, Geschichte und Erdkunde stur gepaukt. Lückentexte ausfüllen, auswendig lernen: Für mehr reichen die Sprachkenntnisse in den ersten Jahren der Grundschule einfach nicht.
„Die Zweisprachigkeit ist sehr attraktiv für die Eltern, aber das System funktioniert nicht“, ist sich auch Rodrigo J. García sicher. Der Pädagoge war einst Schuldirektor, arbeitet jetzt in der Schulbehörde und unterhält einen viel gelesenen Blog auf der Web der Tageszeitung El País. „Fächer auf Englisch zu unterrichten, ist erst einmal keine schlechte Idee, aber nicht in den ersten Jahren der Grundschule. Es fehlt den Kindern an Kompetenz nicht nur in Englisch, sondern oft auch in der Muttersprache“, glaubt García. Das führe zu Verwirrung und Verständnisproblemen. Oft hätten die Lehrer selbst nicht die nötigen Englischkenntnisse, um abstrakte Konzepte gut erklären zu können. Zudem seien Klassenlehrer angehalten, mit den Kindern ausschließlich auf Englisch zu reden. Es entstehe so eine Art „Überlebensenglisch“, urteilt García. Aber keine Sprache, mit der die Kinder etwas anfangen können.
Andrang trotz Kritik
Schlimmer noch: Das System segregiere die Schüler. „Wer nicht mitkommt, wird isoliert“, beobachtet García. Es würden „Schulen innerhalb der Schulen“ entstehen – „die sogenannten Gruppen der Dummen“. Vor allem Kinder aus einfachen Familien, wo niemand Englisch kann und kein Geld für Nachhilfe und Sprachakademien da ist, fallen aus dem System. Laut Elternverbände schmeißen rund ein Drittel der Schüler, die mit sechs Jahren zweisprachig eingeschult werden, den Füller vorzeitig hin und wechseln an eine normale Schule. Von offizieller Stelle wird in Madrid gerne auf die Pisa-Studie verwiesen. Dort schneiden die zweisprachigen Schüler besser ab als die der anderen Schulen. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass dies mit der von García beschrieben Segregation zu tun hat.
Und eine Untersuchung der Madrider Universität Carlos III beobachtet gar Defizite an den zweisprachigen Schulen und spricht von „negativen Auswirkungen auf den Kenntnisstand der Fächer, die auf Englisch unterrichtet wurden“. Trotz aller Kritik wollen immer mehr Schulen in das Programm aufgenommen werden. Das Instituto San Isidro – die älteste Oberschule Spaniens, an der viele bekannte Literaten und Wissenschaftler ihr Abitur gemacht haben – ist seit diesem Jahr dabei.
„Die Schüler, die aus der zweisprachigen Grundschule zu uns kommen, verstehen Befehle, können sich im Schulalltag ausdrücken und einfache Fachtexte lesen. Früher war das nicht so“, erklärt Direktorin Isabel Piñar die Entscheidung. „Es gibt viel Kritik am zweisprachigen System, aber die Plätze an den Schulen gehen weg wie nichts. Dieses Jahr haben sich hier so viele Schüler versucht anzumelden wie nie zuvor“, fügt sie hinzu.
Das prestigereiche San Isidro ist für ihre gegen die Austeritätspolitik aktive Lehrerschaft bekannt und passte damit lange nicht ins Raster. „Wären wir nicht ins Programm aufgenommen worden, hätten wir nur noch die Schüler, die keiner will“, gesteht Direktorin Piñar am Ende ein.
Auch im Palomeras Bajas wissen sie das. Dort ist der Druck nur aufgeschoben. An der benachbarten Oberschule, an die die meisten Kinder mit zwölf Jahren wechseln, wird die Einführung des zweisprachigen Programms Jahr um Jahr erwogen. „Wenn es dazu kommt, werden die Eltern uns Druck machen, da sie Angst haben werden, dass wir ihre Kinder nicht ordentlich vorbereiten“, befürchtet Lehrerin Recover.
Es könnte das Ende dessen sein, was die Palomeras Bajas auszeichnet: eines Unterrichtskonzepts, das sich an den Schülern orientiert.
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