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Mehr, als man kotzen möchte

Radikal, surreal, ein großer Wurf: Roy Anderssons Film „Songs from the Second Floor“

Solch einen Film haben Sie noch nie gesehen! Jede Szene ist eine finstere Endzeit-Vision, in einer Einstellung mit einer wie erstarrten Kamera gedreht. Da ruhen Autos im finalen Verkehrsstau, während Angestellte in quasireligiösen Umzügen durch die Straße ziehen und sich dabei gegenseitig mit Peitschen geißeln. Da wimmert ein kleiner Angestellter, buchstäblich am Bein seines Vorgesetzten hängend, und bettelt um seinen Job, während dieser den Büroflur heruntergeht und ihn hinter sich herzieht. Da wird in einer riesigen Zeremonie von den Mächtigen der Gesellschaft eine Jungfrau geopfert, denn anders scheint die Konjunktur nicht mehr zu retten zu sein.

„Wir haben doch alles versucht“, lallt ein fetter Mann beim Besäufnis nach dem rituellen Mord in sein Bier und zeigt dabei drastisch, wie es ist, wenn man gar nicht soviel saufen kann, wie man kotzen möchte. Der schwedische Spielfilm „Songs from the Second Floor“ ist eine misantropische Anti-Utopie, in der alles schiefgeht, in der Absurdität und Verzweiflung regieren. Die Geister der Toten suchen die Lebenden heim, Bürohochhäuser beginnen sich zu bewegen, die Welt gerät aus den Fugen.

Am ehesten ist man noch an die Bilder von Hieronymus Bosch erinnert, und an die Filme von Luis Buñuel, die ähnlich radikal, surreal und tableauartig inszeniert sind, aber im vergleich eher gemütlich und optimistisch wirken. Soll man sich solch eine Apokalypse in Spielfilmlänge überhaupt antun? Ein Popcornmovie ist „Songs From the Second Floor“ nun ganz gewiss nicht.

Der Film ist unbequem, aber eben auch ein großer Wurf. Zum einen ist er ästhetisch makellos. Alles ist hässlich, aber dabei so frech, treffend und originell ins Bild gesetzt, dass die faden, grauen Stadtansichten eine ganz eigene Schönheit bekommen. Und der Film hat einen ganz eigenen, makabren Humor, dem man sich nicht entziehen kann, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er uns den Filmemacher als Menschen nicht gerade sympathischer macht.

Der amerikanische Kollege Roger Ebert hat scharfsinnig erkannt, dass dieser Witz hier auch durch den Stil des Films entsteht: „Wir werden an die alte Stummfilmregel erinnert: Komödie ist in der Totalen, Tragödie in der Nahaufnahme“. Andersson hat 25 Jahre lang „die besten Werbespots der Welt“ (Ingmar Bergman) gedreht, und dies scheint seine Rache dafür zu sein. Nach vier Jahren Arbeit und mit großem Aufwand ist ihm nun der perfekte Anti-Commercial gelungen. Wilfried Hippen

„Songs from the Second Floor“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln Fr und Sa um 20.30 und von So bis Di um 18.30 im Kino 46

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