Mehr als Sport: Totalitäre Leibesertüchtigung
Pierre de Coubertins Vision von Olympia als Gesamtkunstwerk hat sich erfüllt. Eine Bagatelle ist der ideologische Missbrauch der Spiele deswegen aber nicht.
Einmal angenommen, die Olympischen Spiele würden noch immer nach den Regeln von 1948 ausgetragen - am kommenden Freitag wäre folgendes Szenario denkbar: Nicht Dirk Nowitzki oder ein anderer Modellathlet schwingt beim Einzug der deutschen Delegation ins Nationalstadion von Peking die Fahne. Sondern eine eher unsportliche Gestalt. Zum Beispiel Martin Walser, Dieter Bohlen oder Jonathan Meese.
Als Teilnehmer der Literatur-, Musik- und Malerei-Wettkämpfe stellen sich die drei dann der internationalen Konkurrenz um Bronze, Silber und Gold. Ebenfalls möglich: Herzog & de Meuron, die Architekten des sogenannten Vogelnestes, vertreten die Schweiz und können sich in der Disziplin Baukunst berechtigte Hoffnungen auf eine Medaille machen. Für eben jenes Stadion, das einen guten Teil der Spiele beherbergt.
Das ist kein Scherz, es hat so etwas schon gegeben. Zum Beispiel 1928 bei den Olympischen Spielen in Amsterdam, als der holländische Architekt Jan Wils eine Goldmedaille für Baukunst bekam, weil er das örtliche Olympiastadion gebaut hatte. Die meisten musischen Olympioniken sind heute längst vergessen, an einige aber erinnert sich die Kunstgeschichte. So stand Arno Breker, der Starbildhauer der Nationalsozialisten, wenig überraschend bei den Spielen 1936 in Berlin auf dem Treppchen: Sein heroischer Zehnkämpfer hatte ihm eine Silbermedaille in der Disziplin Rundplastik eingebracht; den Gattungen Relief und Plakette waren in diesem Jahr eigene Wettbewerbe gewidmet. Auch der erst 2007 gestorbene Hindemith-Schüler Harald Genzmer - später einer der namhaftesten deutschen Vertreter der Neuen Musik - konnte sich 1936 eine Medaille in die Vitrine hängen: Bronze in der Disziplin Solo- und Chorgesang für seine Komposition "Der Läufer".
Von 1912 bis 1948 wurden diese olympischen Kunstwettbewerbe in einer schwankenden Anzahl von Einzelsektionen ausgetragen. Die eingereichten Werke mussten einen inhaltlichen Bezug zum Thema Sport haben, die Künstler - im Unterschied zu den auf ihren Amateurstatus verpflichteten Athleten - aber keinen anderen Hauptberuf vorweisen; sie durften ihre Werke im Anschluss an die Spiele auch verkaufen.
Einiges spricht dafür, die olympischen Kunstwettbewerbe nicht bloß als kurioses historisches Intermezzo abzutun. Der Versuch einer Vermählung von Kunst und Körperkultur ist symptomatisch für die olympische Idee, und - wenn auch seit 1948 nur noch Sportwettkämpfe ausgetragen werden - noch lange nicht passé. Auch ist er aus aktuellem Anlass bedenkenswert.
Nicht bloß der Fackellauf oder die Eröffnungsfeier, die gesamten bevorstehenden Spiele werden unter dem Zeichen der Kritik an ihrem vermeintlichen ideologischen Missbrauch durch ein politisches System stehen. Diese Kritik blendet aber aus, dass der Olympismus selbst auf Totalität zielt. Und zwar von Anfang an, also seit 1896, als Pierre de Coubertin die Olympischen Spiele der Neuzeit begründet hatte. Ist das den Chinesen anzulasten?
Coubertin, dieser vielfältig ambitionierte Reformpädagoge und Internationalist, war es auch, der 1912 die olympischen Kunstwettbewerbe ins Leben rief. Mehr noch, er beteiligte sich bei ihrer ersten Ausrichtung in Stockholm gleich selbst am Wettbewerb. In programmatischer Vollständigkeit besingt seine "Ode an den Sport" die hehren Ziele der Leibesertüchtigung: der getrimmte Körper, ein Garant für Volksgesundheit, Hygiene und Moral; das freie Spiel der Athleten als Sinnbild eines weltumspannenden und friedlichen Zusammenlebens der Nationen.
Hier verbindet sich Antikensehnsucht mit neuzeitlichem Therapiedenken (Coubertin propagierte den Sport als Gegengift zur Tuberkulose) und dem lebensreformerischen Projekt des Neuen Menschen. Und noch die Dopingsünder von heute sollten vor Coubertins Lyrik in die Knie gehen: "O Sport, Du bist die Ehre! Von Dir gespendet hat Lob und Zeugnis vollen Wert, weil nur in wahrer Redlichkeit gewonnen. Unlauterer Wettbewerb und unerlaubter Kunstgriff sind streng verpönt. Und mit Verachtung würde der bestraft, der nur mit List und Täuschung die Palme sich erringen wollte." Dass Coubertin mit diesen Versen 1912 die erste Goldmedaille für Literatur errang, zeugt, nebenbei gesagt, kaum von wahrer Redlichkeit: Der Kunstgriff konnte nur gelingen, weil sich der Autor hinter einem Pseudonym versteckte.
In der Theorie jedenfalls ging Coubertin aufs große Ganze. Die Spiele sollten nicht nur mehr als eine Sportveranstaltung sein, sie mussten in verschiedener Hinsicht so groß wie möglich werden. Als Geburtsstätte des modernen Olympismus bezeichnete Coubertin, insofern wenig überraschend, Bayreuth. Bei einer Opernaufführung im Festspielhaus sei ihm zum ersten Mal eine Vision seiner Spiele gedämmert - auch Olympia, das bekannte der Franzose später, sollte als Gesamtkunstwerk Karriere machen. Dieses musste, so heißt es bei Richard Wagner schon 1849, "alle Gattungen der Kunst" umfassen, "um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur."
Eine Darstellung des vollendeten Menschen kann aber zwischen Schlagbäumen kaum gelingen. Gefragt war daher neben der ästhetischen auch die nationale Entgrenzung. So lag es nahe, dass Olympia, zumindest in seiner Anfangsphase, zur Schwester der ebenfalls noch jungen Weltausstellung wurde. 1900 in Paris und 1904 in St. Louis fanden die damals noch bescheidenen sportlichen Spektakel ihre Bühne im Rahmen einer Weltausstellung; die Idee dazu ist aber älter und geht noch hinter Coubertin zurück: Gleich die erste Weltausstellung, die 1851 im Londoner Hyde Park stattfand, wurde von der Zeitung The Spectator als "Olympic Games of Industry" tituliert.
Vor einigen Tagen ist es einem südkoreanischen Kameramann gelungen, Aufnahmen von einer eigentlich geheimen Kostümprobe zur Eröffnungsfeier zu drehen und ins Netz zu stellen. Neben traditionellen Tänzern, Trommlern und Kung-Fu-Kämpfern bekam er eine gigantische Erdkugel vor die Linse, die im Zentrum des ebenfalls gigantischen Stadions von Herzog & de Meuron steht, und schwimmende Wale, die an die tiefblau illuminierte Decke des Stadions projiziert werden. Allein diese Bilder zeigen, dass sich Olympia noch immer - vielleicht sogar mehr denn je - als Gesamtkunstwerk und internationalistisches Projekt versteht.
Der chinesische Filmregisseur Zhang Yimou ist der Zeremonienmeister dieses überwältigungsästhetisch inszenierten Themenparks der besten Absichten, und er setzt damit nahtlos die Tradition vergangener Olympia-Eröffnungen fort. Ob in Athen, Sydney, Atlanta, Barcelona - überall wurde auf dem jeweils aktuellen multimedialen Stand dasselbe Stück zur Aufführung gebracht: Seid, von hier aus, umarmt, ihr Völker dieser Erde! In Peking wird der Wal, als Leviathan der Ozeane, die sinnfällige Metapher dieser schlichten Botschaft sein.
Dennoch regt sich Widerstand: Zumindest in der deutschen Öffentlichkeit ist beinahe konsensfähig geworden, dass Olympia 2008 nichts weiter ist, als der skandalöse Missbrauch einer guten Sache für die nationalen Anliegen eines totalitären Regimes. So wird sogar über den Smog von Peking berichtet, als handele es sich um eine vom Staat zu verantwortende Menschenrechtsverletzung.
Das schöne, gute Olympia, es scheint von einer finsteren Macht besudelt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung klagte über die fortschreitende Ramponierung olympischer Werte: "Der Fackellauf ist schon entzaubert." Was also war noch gleich der Zauber des olympischen Fackellaufs? Den hatten die Nazis erfunden, 1936 zu den Spielen in Berlin, und wunderschön ins Bild setzen lassen von Leni Riefenstahl.
Ist Olympia 2008 im Würgegriff eines totalitären Regimes? Irgendetwas stimmt da nicht. Mag sein, dass es heute mehr ums Geld als um den Neuen Menschen geht und die synästhetischen Effekte der schönen Künste ins totale Marketing übersetzt worden sind - ansonsten ist Olympia ganz genau das, wovon Pierre de Coubertin geträumt hat: ein weltumspannendes Gesamtkunstwerk. Die Olympischen Spiele sind die Spiele der kapitalistischen Internationale. Und die ist in Peking genauso zu Hause wie überall sonst, wo es genügend Stadien und Kunden gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken