Mehr Entertainment als Aufklärung: Zwei Groschenopern
In Schwerin und Hamburg setzt man auf „Die Dreigroschenoper“ von Bert Brecht und Kurt Weill, denn die macht ja total viel Spaß.
Die Hamburger schmettern den Gassenhauer vom gefährlich bezahnten Haifisch gar nicht erst, nur die Melodie gleitet ab und an bedrohlich durchs Geschehen. Und auf die Frage, ob jetzt mal der Kanonen-Song angestimmt werden soll, heißt es schlicht: „Nö.“ Die Schweriner schmettern die Moritat von Mackie Messer textbuchgemäß gleich als Vorspiel und mit dem ganzen Ensemble zur chorischen Monumentalisierung und verweigern dem Publikum auch sonst kein Déjà-vu-Erlebnis.
Das Hamburger Thalia-Ensemble tritt zigarrenrauchig vernebelt im Brecht-Einheitslook auf: Proll-Blaumann, Schiebermütze, Meckischnitt. Im nur 100 Kilometer entfernten Schwerin illusionieren die Kollegen des mecklenburgischen Staatstheaters mit kostümprächtiger Ironie die angeblich goldenen 20er-Jahre. „Dreigroschenoper“ zur Schauspielzeiteröffnung. Weil der Stoff hochaktuell, hochpolitisch, bohrend gesellschaftskritisch ist? Nö. Ex-Ost- und schon immer West-Theater sind sich einig in einer nicht zeitlosen Modernität: Auf Aktualisierungen kann verzichtet werden, mehr als Propaganda-Sprüche für Demonstrationsplakate sind eh nicht zu entdecken.
Müde wird der finale Appell an die Milde der Justiz verkündet – ist sie doch längst juristische Urteilspraxis. Dass Gründung oder Rettung einer Bank die viel größeren Verbrechen darstellen als Bankeinbrüche durch Tresorknacker oder Hacker – dafür müssen nicht Logos der Lehman Brothers oder HSH Nordbank auf die Bühne projiziert werden. Aber gäbe es 87 Jahre nach der Uraufführung nicht etwas mehr zu erzählen als die lässigen Behauptungen, Ausbeutung und Korruption in Großunternehmen und im mittelständischen Handwerksmilieu gingen ähnlich zynisch vonstatten, Geld und Egozentrik regierten die Welt?
Auf alle Fälle geht mit solch schlichter Belehrung von gestern Unterhaltung heute. Gerade auch, weil die dazu komponierten Kurt-Weill-Schlager mit dem rumpeligen Charme querständiger Harmonien inzwischen den Status von Popklassikern haben. Revoluzzern im Mitsumm-Modus. So mag der Bürger das Bürgererschrecken. Und wird vom Regieansatz des scheidenden Schweriner Schauspielchefs Peter Dehler bestens bedient: volle Dröhnung Revue.
Während die Sprechszenen zu Comedynummern über Mann-Frau- und Familienbeziehungen aufgebrezelt werden, die Bordell-Episoden als multikulturell romantisierte Genremalerei inszeniert sind, legen die Musiker im Orchestergraben viel Wert auf schönen Schrägklang mit Jazzanmutung – und die Schauspieler viel Wert auf wirklich sehr gute Gesangsleistungen. Übersetzt in Rockmusik-Kategorien: Eine Brecht-Cover-Band spielt den größten Hit ihres Helden noch mal sauber im Retro-Design vom Blatt. „Glotzt nicht so romantisch!“ steht über der Bühne, davor Klatschmarschjubel. Ein garantierter Publikumserfolg. Das ist vielleicht der einzige Grund, das ausinszenierte Stück noch auf den Spielplan zu setzen.
In Hamburg konnte und wollte sich Thalia-Hausregisseur Antú Romero Nunes nicht vor der Aufgabe drücken. Lässt aber verkünden, das Stück sei längst verbraucht. So ist sein Regieansatz eher der einer Postrockband: Alles schon erlebt – und nun ganz entspannt noch mal mit einstigen Kicks spielen. Deutlich wird das gleich am ersten Satz des Werkes: „Es muss etwas Neues geschehen.“
In Schwerin wird er stückimmanent gedeutet: als Suche des Bettlerkönigs nach neuen Methoden, den verhärteten Menschen wieder üppigere Mitleidgaben aus den Portemonnaies zu barmen. In Hamburg fragt Jörg Pohls Peachum nach dem Neuen, das die „Dreigroschenoper“ einst zu bieten hatte. Da sie inhaltlich doch mehr oder weniger gut John Gays „Beggar‘s Opera“ aus dem Jahr 1728 sowie endlos weitere Quellen paraphrasiert, bleibt – der V-Effekt.
Das sei kein Energy-Drink, wird erläutert, sondern ein ästhetischer Kniff gegen Einfühlungskitsch. Daraus entwickelt das Ensemble eine hinreißend alberne bis komödiantisch verspielte Einführungsveranstaltung ins epische Theater. Wer keine Vorstellungskraft habe, könne angesichts der leeren Bühne gleich wieder gehen, sagt Pohl/Peachum. Nirgendwo eine Brechtgardine oder bühnenbildnerisches Augenfutter wie in Schwerin. Nur eine eisig grell illuminierende Leuchtstab-Installation baumelt über dem Geschehen.
Die Darsteller brechen ständig die Aufführungsrealität: wollen die Kulissen auch noch spielen, rezitieren Regieanweisungen, stellen pflichtschuldigst ihre Produktionsmittel aus und flechten zur Ehrenrettung des ab und an verhohnepiepelten Autoren ein wenig seiner Lyrik ein. Vor allem aber: Sie verwandeln sich ihre Rollen nicht an, stellen sie deutlich aus und diskutieren dabei noch diesen V-Effekt. Die Erläuterungssentenzen des Autors tragen sie im nasalen Brecht-Tonfall und erkenntniserhellend naiv vor, oder probieren sie auch einfach mal aus. Das ist lustiger als Lehrbücher zur Dramentheorie – und hat schon mal die Freizeitspaßanmutung bekiffter Theaterwissenschaftsstudenten.
Wobei die Thalia-Leute Brechts holpriger Szenendramaturgie auch noch mit grellen Kabarettnummern die Jux-Krone aufsetzen, beispielsweise imitiert ein Bettlerdarsteller den nöligen Leidensmonolog eines Hamburger U-Bahn-Schnorrers und Männerstreit wird zeitlupig in Kampfsport-Manier ausgetragen. Der reitende Happy-End-Bote kommt nicht wie in Schwerin als Lachnummer auf einem Papppferd daher, sondern als Retter des bürgerlichen Theaters auf einem echten Gaul.
Summa summarum: Aus dem süffigen Stück mal ein genuin politisches zu machen, darum müssen sich andere kümmern. Denn ob nun postrockend um die Oberflächenreize herum gespielt wird oder Cover-rockend genau diese betont werden: Der Text gewinnt keine Dringlichkeit. Es triumphiert in Schwerin wie Hamburg das Amüsement über die eventuell mögliche Aufklärung. Aber die szenische Fantasie hält jeweils drei Stunden lang das Publikum bestens bei Laune. Zwei Spielplanhits mehr haben nun die Theater des Nordens. Kann behauptet werden, welcher der bessere ist? Nö.