Meduza-Auswahl 29. Dez 24 – 1. Januar 25: Wie Russlands Fahne vom Anti-Sowjet- zum Kriegssymbol wurde
Über 300 Jahre ist die heutige russische Fahne alt. Und sorgt für Diskussionen unter Oppositionellen: Steht sie nur noch für Putin? Oder für Russland darüber hinaus?
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März 2023 unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Zeit vom 29. Dezember 2024 bis zum 1. Januar 2025 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Eine Wahl – ohne Wahlfreiheit – in Belarus
In Belarus hat es in den 30 Jahren, in denen Alexander Lukaschenko Präsident ist, keine freien und fairen Wahlen gegeben. Im Oktober setzten die Behörden eine „Präsidentschaftswahl“ für den 26. Januar 2025 an, fast sechs Monate früher als erwartet. Es ist die erste seit den manipulierten Wahlen von 2020. Diese lösten wochelange Massenproteste gegen die Regierung aus, die von den Behörden gewaltsam unterdrückt wurden.
Seither geht Lukaschenko mit aller Härte gegen Andersdenkende vor. Seine Gegner sitzen heute beinahe allesamt im Gefängnis oder im Exil, er selbst strebt eine siebte Amtszeit an. Was der 26. Januar für das Land bedeuten wird, besprach Meduza mit dem erfahrenen belarussischen Oppositionspolitiker und Aktivisten Andrei Sannikov (englischer Text)
„Es gibt keine Abstimmung, es gibt keine Wahl“, sagt er. „Mein Rat ist, das zu ignorieren. Denn nach 2020 sollte die demokratische Welt das Wort „Wahl“ in Bezug auf dieses Regime nicht mehr verwenden.“ Lukaschenko verbinde wohl einige Hoffnungen mit der neuen US-Regierung unter Donald Trump. Deshalb habe er diese „Show“ absichtlich unmittelbar nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten angesetzt.
Lukaschenko schaffe es außerdem, „dem Westen einige positive Zeichen zu geben, weil die Sanktionen wirken. Sie haben mehrere politische Gefangene freigelassen, ohne ihre Namen zu nennen, aber sie verhaften viele weitere.“ Die Zahl der politischen Gefangenen in Belarus nehme also nicht ab, sie steige.
Keine Gaslieferungen mehr via Ukraine
Der russische Konzern Gazprom hat nach eigenen Angaben am 31. Dezember damit begonnen, die Gaslieferungen nach Europa über die Ukraine zu kürzen, schreibt Reuters unter Berufung auf eine Erklärung des Unternehmens.
Gazprom machte die Ankündigung einen Tag vor dem Auslaufen eines Abkommens über den Transit von russischem Gas durch die Ukraine. Sollte in letzter Minute kein Transitabkommen zustande kommen, werden die Gaslieferungen am 1. Januar auf Null reduziert, erklärt Meduza auf Russisch.
Die ukrainischen Behörden hatten zuvor gewarnt, dass sie den Transit von russischem Gas und Öl nach Europa ab dem 1. Januar 2025 aufgrund des Kriegs einstellen würden. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte schließlich am 26. Dezember, dass für den Abschluss eines neuen Abkommens in diesem Jahr keine Zeit mehr bleibe.
Wichtige Empfänger von russischem Gas – etwa die Slowakei und Österreich – haben sich auf Alternativen geeinigt. Der Wegfall der Lieferungen über die Ukraine ist außerdem ein schwerer Schlag für Moldawien. Analysten zufolge soll die Unterbrechung des Gastransits durch die Ukraine aber nur minimale Auswirkungen auf den Markt haben. Nach dem Beginn der umfassenden Invasion der Ukraine durch russische Truppen hatten die EU-Länder bereits begonnen, ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern – und mehr von den USA, Norwegen und Katar gekauft.
Was die russische Tricolore bedeutet
Ende 2024 entbrannte in der Anti-Kreml-Opposition eine heftige Diskussion über die das Mitführen der russischen Nationalflagge bei Protestkundgebungen. Die einen argumentierten, dass die Flagge die russische Nation repräsentiere – die über das derzeitige Putin-Regime hinausgehe. Andere sagen: Wladimir Putin und seine Regierung haben das Symbol heute quasi besetzt. Die russische Flagge bedeute heute vor allem eines: politische und militärische Aggression und Krieg. Doch in der jüngeren Geschichte hatte sie eine ganz andere Bedeutung. Meduza beschreibt die sich wandelnde Bedeutung der russischen Trikolore (englischer Text).
Die russische Flagge ist über 300 Jahre alt. Peter I. entwarf ihre heutige Form Ende des 17. Jahrhunderts, aber das Moskauer Zarenreich verwendete die Farben Weiß, Blau und Rot mindestens seit den 1660er Jahren. Die russische Trikolore wurde in den 1980er Jahren zu einem Symbol gegen die Sowjetmacht. In Russland, wie auch in anderen Teilen der zusammenbrechenden UdSSR versammelten sich die Anhänger des Regimewechsels um nationale Symbole aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die ukrainische, belarussische, lettische und zahlreiche andere postsowjetische Flaggen haben im Wesentlichen die gleiche Entstehungsgeschichte.
Bis 2008 galt in Russland ein paradoxes Gesetz, das die freie Verwendung von Staatssymbolen verbot. Doch dann schlug die russische Fußballmannschaft die Niederlande im Viertelfinale der Europameisterschaft, und Tausende von Menschen strömten auf die Straßen, um zu feiern. Viele von ihnen schwenkten russische Flaggen, und natürlich hielt sie niemand auf. Nach ein paar Monaten wurde das Verbot aufgehoben.
Bewegende Fotos aus dem Ukrainekrieg
Seit dem ersten Tag des Ukraine-Krieges veröffentlicht Meduza täglich Fotos von der Frontlinie, aus zerbombten ukrainischen Städten, aus dem russischen Grenzgebiet, wo die Kämpfe stattfinden, sowie Aufnahmen von Menschen – Zivilisten und Soldaten – im Zentrum der historischen Ereignisse. Jeden Tag durchlaufen Hunderte von Bildern Meduzas Fotodienst. „Ja, es ist eine gewaltige Aufgabe, und nein, man kann sich nicht daran gewöhnen“, sagen Bildredakteure – und beschreiben die Fotos aus dem Jahr 2024, die ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind (russischer Text).
Ein Bild zeigt etwa den 12-jährige Nikita aus dem Dorf Simonovka im Oblast Charkiw, 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, am 1. Januar 2024. In der Silvesternacht gab es kein Licht im Haus. Die Stromleitung war bei der Beschießung beschädigt worden – und so der Feiertag mit Fackeln begangen.
Kinder sind die schutzlosesten Zeugen des Krieges. Jedes Foto, das sie zeigt, ist eine Anklage gegen das, was ihnen die Kindheit raubt und Schmerz und Verlust beschert. Selbst nach jahrelanger Arbeit mit Kriegsreportagen sei es schwierig, sich an dieses Schauspiel zu gewöhnen.
Die Menschen auf diesen Fotos sind keine Statistik. Der Krieg raubt ihnen die Zukunft und zerstört ihre Träume, bevor sie überhaupt eine Chance haben, sich zu entwickeln. Jeder Verlust, den ein Kind im Krieg erfährt, ist eine Welt, die nicht mehr wahr werden kann. Das Material erinnert daran, welch hohen Preis Kinder für die Entscheidungen von Erwachsenen zahlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte über Verbot von Privat-Feuerwerk
Schluss mit dem Böllerterror
Mögliches Ende des Ukrainekriegs
Frieden könnte machbar sein
Kleinparteien vor der Bundestagswahl
Volt setzt auf die U30
Debatte nach Silvester
Faeser und Wissing fordern härtere Strafen
Todesgefahr durch „Kugelbomben“
Bombenstimmung nach Silvester
Grundsatzbeschluss des BVerfG
Karlsruhe erschwert Observationen